Ein Demonstrant wird in Santiago von der Polizei abgeführt
Reuters/Pablo Sanhueza
Südamerika

Kontinent im Krisenmodus

Den Anfang hat Ecuador gemacht. Anfang Oktober entzündete sich an der Streichung von Benzinsubventionen die Wut der Indigenen. Reihum griffen die Proteste auch auf andere Länder Südamerikas über: Chile, Bolivien, zuletzt Kolumbien. So unterschiedlich deren Auslöser auch waren, eine gemeinsame Wurzel gibt es: die tiefe ökonomische und politische Spaltung der Gesellschaft.

In Bolivien schwappten die Proteste den Linkspopulisten Evo Morales aus dem Amt – nach 13 Jahren an der Macht hatte er sich verspekuliert. Erst änderte Morales trotz des in einem Referendum geäußerten Widerstands der Bevölkerung die Verfassung, um länger als zwei Amtszeiten regieren zu können. Dann erklärte er sich bereits nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl Mitte Oktober zum Sieger, obwohl Unregelmäßigkeiten bekanntgeworden waren.

Doch Morales hatte trotz wirtschaftlicher Erfolge den Rückhalt bei einem großen Teil der Bevölkerung verloren. „Morales gehört zur indigenen Bevölkerung und hat viel für Indigene getan, die rund 60 Prozent der bolivianischen Bevölkerung ausmachen“, sagte unlängst der kolumbianische Politikberater Mauricio de Vengoechea. „Zwar lief anfangs alles gut, aber Jahr für Jahr wurde die Freiheit eingeschränkt, weil die Regierung immer mehr Behörden kontrolliert.“

Morales verliert Macht und Heimat

Nach heftigen Protesten gegen seinen zunehmend autoritären Stil und auf Druck des Militärs musste Morales zurücktreten und flüchtete ins Exil nach Mexiko. Seitdem ringt Interimspräsidentin Jeanine Anez um Ruhe im Land, bisher vergeblich: Seit Beginn der Unruhen kamen über 30 Menschen ums Leben. Morales-treue Kräfte orten zunehmend Zensurmaßnahmen – diese Woche etwa wurde der Empfang des linksgerichteten TV-Senders Telesur unterbunden. Die staatliche Nachrichtenagentur ABI und die Tageszeitung „Cambio“ wurden der Internetplattform Amerika21 zufolge gleich nach Morales’ Rücktritt von Oppositionskräften übernommen.

Polizeikräfte in Santiago
APA/AFP/Claudio Reyes
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sowie die Macht der herrschenden Elite sorgten in Santiago für schwere Krawalle

Auch Chile kommt ins Wanken

Am überraschendsten kam der Ausbruch der Proteste wohl in Chile: Das Land galt bisher als das stabilste in Südamerika, mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und mit regelmäßigen, demokratischen Regierungswechseln zwischen links und rechts. Nach einer scheinbar geringfügigen Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago de Chile entlud sich auf den Straßen der Ärger, der sich unter anderem wegen niedriger Löhne und Pensionen, hoher Preise und Studiengebühren sowie wegen extremer Unterschiede zwischen Armen und Reichen über die Jahre aufgestaut hatte.

Es kam zu gewaltsamen Straßenschlachten mit schweren Sachbeschädigungen und Plünderungen, 26 Menschen verloren ihr Leben, über 11.000 wurden verletzt. Präsident Sebastian Pinera kündigte soziale Verbesserungen und eine neue Verfassung an – der aktuelle Text von 1980 stammt noch aus Zeiten der Diktatur von General Augusto Pinochet. Doch die Proteste gegen den Multimillionär Pinera und seine Führung gehen weiter – nicht verwunderlich, wenn man sich die Einkommensdiskrepanzen in Chile vor Augen hält. Laut BBC sind die Gehälter von Senatoren und Senatorinnen sowie Abgeordneten die höchsten der Region und betragen das 31-Fache des gesetzlichen Mindestlohns.

Grafik zu Unruhen in Südamerika
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Ecuadors Indigene wehren sich

Auch in Ecuador entzündete sich der Volksaufstand an einer Preiserhöhung: Der ehemals linksgerichtete Präsident Lenin Moreno ließ die Subventionen von Treibstoff um jährlich 1,2 Milliarden Dollar streichen – eine Auflage des Internationalen Währungsfonds (IWF) für einen Kredit von 4,2 Milliarden Dollar. Es folgten eine schlagartige Erhöhung der Preise für Dieselkraftstoff um über 100 Prozent und landesweite Proteste. Nach einem Marsch der Indigenen in die Hauptstadt Quito mit schweren Verwüstungen musste Moreno nach zwölf Tagen die Preiserhöhung zurücknehmen.

Demonstrant mit ecuadorianischer Fahne
Reuters/Ivan Alvarado
In Ecuador nahm die Protestwelle in Südamerika ihren Anfang

Neue Gewalt in Kolumbien

In Kolumbien sucht der rechtskonservative Präsident Ivan Duque nach anhaltenden Protesten derzeit einen „nationalen Dialog“: „Wir sind eine Regierung, die zuhört“, verkündete er in einer Fernsehansprache. Dass das die Bevölkerung ähnlich sieht, ist zu bezweifeln: In Protesten mit bis zu 200.000 Menschen werden insbesondere höhere Pensionen, mehr Geld für Bildung und die konsequente Umsetzung des Friedensabkommens mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) gefordert.

Immer mehr Paramilitärs und kriminelle Gruppen marschieren derzeit in die Gebiete der afrokolumbianischen und indigenen Gemeinden. Bei einem Angriff auf Ureinwohner wurden Ende Oktober fünf Menschen getötet. Auch FARC-Dissidenten, die das Friedensabkommen mit der Regierung ablehnen, sind wieder aktiv. Die zunehmende Gewalt heizt die Stimmung im Land weiter an.

Protestierende in Buenos Aires
Reuters/Agustin Marcarian
Ein Drittel der argentinischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze

Argentinien durchlebt derzeit seine schwerste Wirtschaftskrise seit 17 Jahren. Seit über einem Jahr befindet sich das Land in der Rezession, die Menschen leiden unter hoher Inflation und Arbeitslosigkeit. Im vergangenen Jahr rutschten nach Angaben der Statistikbehörde 3,4 Millionen Argentinierinnen und Argentinier in die Armut ab. Nun leben 35,4 Prozent der Menschen in einem der einst reichsten Länder der Welt unterhalb der Armutsgrenze. Der Ende Oktober abgewählte, wirtschaftsliberale Präsident Beschreibung
Mauricio Macri hinterlässt seinem peronistischen Nachfolger Alberto Angel Fernandez ein schweres Erbe.

„Es gibt wenig Grund zu Optimismus“

Die italienische Zeitung „La Repubblica“ handelte unlängst das südamerikanische Panoptikum der Krise in einem Kommentar ab und schloss mit den Worten: „(…) Brasilien mit einem Präsidenten, der unfähig ist, die Wirtschaft wiederzubeleben, die das Land zunehmend spaltet und die Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen vergrößert. Am Ende dieses düsteren Szenarios steht Venezuela, isoliert von der Welt, mit zwei Präsidenten, ohne Nahrung und Medikamente. Die Rechte kann nicht regieren. In Lateinamerika weht ein neuer Wind. Die Linke taucht wieder auf. Aber auch sie hat keine Ideen, wenn sie erst mal an der Macht ist.“

Während Nord- und Mitteleuropa sich vom Links-rechts-Gegensatz zu verabschieden beginnen, analysierte der Schweizer „Tagesanzeiger“, verschärfe sich dieser in den Ländern Südamerikas weiter. „Es gibt wenig Grund zu Optimismus. Am ehesten stimmt einen die Entschlossenheit zuversichtlich, mit der ein wachsender Teil der Bevölkerung die Arroganz der Macht zurückweist. Aber solange dies bedeutet, dass ein rechter Populist durch einen linken ersetzt wird, oder umgekehrt, ist noch nichts gewonnen.“