Junge Frau hält Mobiltelefon mit der App TikTok
ORF.at/Dominique Hammer
Ungeschminkte Politik

Der Aufstand der Mädchen auf TikTok

Mit Popsongs, Schminktipps und Streichen ist TikTok zu einem der wichtigsten Sozialen Netzwerke für Jugendliche geworden. Vor allem Mädchen nutzen die Plattform seit einiger Zeit aber auch für ernste Botschaften: Diese Woche sorgte ein Video zur Situation der Uiguren in China für Aufsehen, getarnt war es als Beauty-Tipp. Auch bei anderen Themen wird kein Blatt vor den Mund genommen – der Protest fällt oft sehr kreativ aus.

„Hallo Leute, heute will ich euch zeigen, wie ihr längere Wimpern bekommt“ – die 17-jährige Schülerin Feroza Aziz aus den USA beginnt ihre Botschaft wie unzählige andere Beauty-Videos auf Plattformen wie TikTok, Instagram und YouTube. Doch gleich nach der Begrüßung nimmt das Video eine unerwartete Wendung.

„Zuerst nehmt ihr eure Wimpernzange, dann formt ihr – eh klar – eure Wimpern und dann nehmt ihr das Telefon, das ihr gerade verwendet, und sucht, was in China los ist, wo unschuldige Muslime in Konzentrationslager geworfen werden, wo Familien getrennt werden, sie entführt, ermordet, vergewaltigt werden, sie zum Verzehr von Schweinefleisch und zum Trinken von Alkohol gezwungen werden“, so Aziz. Ihre scharfe Kritik richtet sich an den Umgang Chinas mit der muslimischen Minderheit der Uiguren.

Chinesischer Konzern betreibt Soziales Netzwerk

Das Video verbreitete sich rasant: Mittlerweile wurde es auf TikTok eineinhalb Millionen Mal abgespielt, auf Twitter wurde es sogar über hunderttausendmal geteilt, drei Millionen spielten den Clip ab. Als Beauty-Tipps tarne sie ihre Videos, damit „TikTok meine Videos nicht löscht“, so Aziz in einem anderen Clip.

Denn das Soziale Netzwerk ist im Besitz der chinesischen Firma ByteDance. Aziz warf dem Konzern vor, ihr Konto im Anschluss an die Videos gesperrt zu haben – das wies ByteDance zunächst jedoch zurück. Ein Sprecher des Unternehmens entschuldigte sich inzwischen. Die Sperre von Aziz’ Konto sei aufgehoben worden, es habe sich um einen „menschlichen Fehler“ bei der Moderation gehandelt. Aziz lehnte die Entschuldigung daraufhin via Twitter ab.

„TikTok moderiert Inhalte nicht aufgrund politischer Befindlichkeiten“, sagte ein Sprecher des Unternehmens gegenüber der BBC zudem. Man bestätigte auch, dass man einen älteren Account der 17-Jährigen gesperrt habe, weil dieser gegen „Regeln zu terrorbezogenem Material“ verstoßen habe, schreibt die BBC. Mittwochnachmittag waren Aziz’ Videos auf TikTok aber frei zugänglich.

Ausdruckstanz für den Ex-Freund

Das Video der Schülerin sorgte für großen Wirbel abseits des Sozialen Netzwerks – es ist aber nicht das erste Mal, dass TikTok-Videos ernste Botschaften transportieren. Dabei sind die Inhalte der Plattform großteils unbeschwert: Wer die App installiert, bekommt vor allem viele Lip-Sync-Videos bekannter Popsongs auf den Smartphonebildschirm. Die BBC schreibt, dass gerade die Leichtherzigkeit TikToks Aktivismus begünstigen könnte, weil man nicht die „volle Last des Aktivismus“ fühle.

Entsprechend anders ist der Zugang zu Themen, die auf Sozialen Netzwerken sonst eher tabu sind: Erst Ende Oktober machte eine Reihe Videos die Runde, in der Mädchen und junge Frauen verbale Gewalt in ihren Beziehungen thematisierten. Anstatt diese direkt anzusprechen, tanzen sie in ihren TikTok-Videos zu Sprachnachrichten der (nunmehrigen Ex-)Partner.

Lehrergehälter und Notre Dame

Ähnlich wird mit weiteren tendenziell eher sperrigen Themen umgegangen: Eine Userin machte in ihrem Video auf die ungerechte Verteilung von Wohlstand aufmerksam – Lip-Sync und Sonnenbrille inklusive. Dabei wird in dem kurzen Clip ein Bogen von Notre Dame zum verseuchten Trinkwasser in Flint im US-Bundesstaat Michigan gespannt. „Soziale Netzwerke haben geholfen, meine Meinung zu beeinflussen, und ich möchte das für andere junge Leute tun können“, sagte die TikTok-Userin gegenüber der BBC.

Im August rief unterdessen eine 16-jährige Schülerin ihre Mitschülerinnen und Mitschüler zum Streik auf – und zwar, um höhere Löhne für das Unterrichtspersonal zu fordern. Offenbar mit Erfolg: Nachdem sich das Video auch außerhalb TikToks verbreitet hatte, berief die US-Schule noch vor dem Streiktermin eine Pressekonferenz ein und kündigte eine Einigung auf höhere Gehälter an.

Auch Waffengewalt an Schulen, die Klimakrise und unzählige weitere Themen werden auf TikTok angesprochen. Den meisten Kurzvideos ist der kreative, oft auch satirische Zugang gemein. Besonderheit von TikTok ist momentan, zumindest noch, dass Jugendliche zwar nicht ganz unter sich sind, jedoch einen wesentlichen Anteil ausmachen: Wie das britische Marktforschungsinstitut GlobalWebIndex schreibt, sollen 43 Prozent der TikTok-Nutzer zwischen 16 und 24 Jahre alt sein.

Die Angst davor, ein Möchtegern zu sein

Die australische Anthropologin Crystal Abidin sagte gegenüber dem australischen Rundfunk ABC, dass TikTok bei jungen Menschen beliebt sei, weil es Insiderwissen erfordere – es sei damit ein „Sozialer Silo“. Das helfe, etwa bei Themen wie dem Klimawandel, auch junge Menschen zu involvieren. Das Phänomen ist damit wohl mit Snapchat vergleichbar, das ebenfalls primär junge Menschen ansprach.

Ein Soziales Netzwerk, das angesagt ist und bereits bewiesen hat, politische Botschaften zu transportieren, wird freilich auch für Politikerinnen und Politiker interessant. Gegenüber ABC sagte die Werbeexpertin Dee Madigan, dass diese mit den Eigenheiten des Netzwerks im Hinterkopf aber vorsichtig sein müssten: „Es ist sehr leicht, wie ein Möchtegern auszusehen.“

TikTok reagiert auf Sicherheitsbedenken

TikTok gehört seit 2017 ByteDance, davor hieß die Anwendung Musical.ly. Inzwischen hat die App weltweit 500 Millionen Nutzerinnen und Nutzer. In den USA hatte es zuletzt wegen Sicherheitsbedenken Kritik an TikTok gegeben – der Konzern reagierte nun. Der chinesische Betreiber wolle die App vom übrigen Geschäft – in China wird etwa die vergleichbare App Douyin betrieben – trennen, berichten Insider am Mittwoch.

Das Unternehmen werde den US-Behörden Zusagen machen, dass die persönlichen Daten der Nutzer in den USA gespeichert werden. TikTok speichert neben den Kontakt- und Anmeldedaten auch den Standort der Nutzer sowie mit der App geteilte Bilder und Videos.