Eine Auswahl von Romanen liegt auf weihnachtlichem Christbaumschmuck
ORF.at/Christian Öser
Empfehlungen

Die Romane für den Gabentisch

Weihnachten steht vor der Tür – und die Redaktion von ORF.at hat wieder eine Liste der packendsten, berührendsten und lustigsten Lektüren der vergangenen Monate zusammengestellt. Zu Beginn lädt ein Roman-Best-of zur Entdeckungsreise – mit atmosphärischen Spannungsromanen, wiederentdeckten Klassikern und leichtfüßig erzählten Lebensgeschichten zum Ver- und Sich-selber-Schenken. In den nächsten Tagen folgen die Sachbuch-, Krimi- und Kinderbuchtipps.

Watteweicher Schmerz

Ein wehleidiger, selbstverliebter Ex-Bestsellerautor, seine coole, aber verletzliche Teenagertochter und eine mysteriöse Briefeschreiberin: Aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt die Salzburgerin Mareike Fallwickl in „Das Licht ist hier viel heller“ klug, modern und berührend von Alltagssexismus, Beziehungsstress und Erwachsenwerden. „Home is where the hurt is“, heißt es einmal im Buch – und ja, der Schmerz spielt eine große Rolle in dieser österreichischen Familiengeschichte, aber die Watte, in die Fallwickl ihn verpackt, ist so bittersüß und federleicht, dass man nicht mehr aufhören will zu lesen. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Mareike Fallwickl: Das Licht ist hier viel heller. Frankfurter Verlagsanstalt, 384 Seiten, 24,70 Euro.

Poetische Coming-of-Age-Geschichte

Der Ausnahmelyriker Ocean Vuong hat einen poetischen Roman über seine Herkunft verfasst. Der Form nach ist die Coming-of-Age-Geschichte eines sensiblen schwulen Außenseiters als Brief an seine Mutter geschrieben, in dem ihre Beziehung zwischen Liebe und emotionaler Geiselhaft auf berührende Weise erzählt wird. Außerdem ist „Auf Erden sind wir kurz grandios“ eine sehr persönliche Bestandsaufnahme der amerikanischen Opioidkrise, der der erste Partner des Protagonisten zum Opfer fällt. Ein Buch voll emotionaler Tiefe und poetischer Kraft. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser, 269 Seiten, 22,70 Euro.

Den Wald vor lauter Toten

Der Nachbar von Janina Deszeijko ist erstickt, offenbar an einem Rehknochen. Niemand mochte den Wilderer, aber jetzt muss sich wohl jemand kümmern. „Der Gesang der Fledermäuse“ beginnt mit einer Leiche, und es wird nicht die einzige bleiben: Krimi, politische Parabel, skurrile Komödie – dieser Roman entzieht sich den Kategorien, die Autorin sollte spätestens seit ihrem Nobelpreis 2018 (verliehen 2019) ein Begriff sein: Viele von Olga Tokarczuks Romanen waren lange nicht auf Deutsch erhältlich, der Kampa Verlag hat das jetzt übernommen. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Olga Tokarczuk: Der Gesang der Fledermäuse. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Kampa, 319 Seiten, 24,70 Euro.

Mit dem Klassiker auf die Insel

Es muss nicht immer „Moby-Dick“ sein: Die Südsee-Abenteuergeschichte „Typee“ war Herman Melvilles Erstling und zu Lebzeiten sein erfolgreichstes Buch. 1842 büxte der junge Matrose Melville von einem Walfänger auf eine polynesische Insel aus. Diese Erfahrung verarbeitete er in der Geschichte von Tom und Toby, die die Insel Nuku Hiva erforschen und von den Typee aufgenommen werden. Melville schildert die Kultur dieser Menschen als früher Kolonialkritiker und überdenkt die westliche Lebensweise. Ein guter Einstieg ins Universum des Kultautors im Melville-Jahr. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Herman Melville: Typee. Aus dem Amerikanischen neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Mare, 448 Seiten, 39,10 Euro.

Das Leben ist lebenswert

Selbstbewusst und gleichzeitig voller Demut spricht Hans Platzgumer seine Einladung aus: „Willkommen in meiner Wirklichkeit!“ In acht Episoden wagt der Autor und Musiker einen Streifzug durch Vergangenheit und Gegenwart und erzählt davon, warum es uns bei all dem Irrsinn in der Welt auch gutgehen darf. Mit dabei sind John Lennon, Donald Trump, Stefan Sagmeister, Hatschi Bratschi und Roland Barthes, um nur einige zu nennen, die Platzgumers Lebensweg beeinflusst haben. Und er kommt zu dem Ergebnis: Das Leben ist lebenswert. Eine Erkenntnis, die man getrost unter den Christbaum legen darf. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Hans Platzgumer: Willkommen in meiner Wirklichkeit! Milena, 170 Seiten, 22 Euro.

Eine Auswahl von Romanen liegt auf weihnachtlichem Christbaumschmuck
ORF.at/Christian Öser

Der grausame Lottobaron von Wien

Der historische Kriminalfall um einen tyrannischen Wiener Lotteriebaron ist schon an sich ein süffiger Romanstoff – und Bettina Balaka weiß, wie man einen solchen nutzt: Mit „Die Tauben von Brünn“ legt sie ein atmosphärisch dichtes Zeitpanorama aus dem Wien der Gründerzeit vor, in dem sich Aberglaube und Kapitalismus die Hand reichen – und die titelgebenden Vögel noch ein Wörtchen mitzureden haben. Den dramaturgisch gut gewobenen Krimiplot gibt es quasi obendrauf. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Bettina Balaka: Die Tauben von Brünn. Deuticke, 192 Seiten, 20,60 Euro.

Zwischen den Seilen

Im Jahr 2011 reist der Soziologiestudent Lorenz nach Damaskus, wo er den syrischen Kurden Z und die Wiener Fotografin Elena kennenlernt. Jahre später sind die drei immer noch Freunde, auch wenn Lorenz’ Herz inzwischen dem Boxsport gehört. Im Boxring spielen Herkunft und Ethnie keine Rolle, ein Zustand, den Lorenz auf seinen Reisen und im heimatlichen Wien während der Flüchtlingskrise 2015 vergeblich sucht. Mit „Gemma Habibi“ legt Robert Prosser einen intensiven Roman vor, der die richtigen Fragen zu den Themen Obsession, Freundschaft, Zivilcourage und Aufbruch stellt. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Robert Prosser: Gemma Habibi. Ullstein fünf, 224 Seiten, 22,70 Euro.

Unglaubwürdiger Bericht

Franz, der Erzähler in Norbert Gstreins „Als ich jung war“, wächst als Hotelierssohn und Hochzeitsfotograf wider Willen in einem Tiroler Dorf auf. Als es bei einer Hochzeit zu einem tragischen Todesfall kommt, wandert Franz in die USA aus, um Skilehrer zu werden. In seiner Umgebung häufen sich Selbstmorde und womöglich Missbrauchsfälle, dem scheinbar naiven Plauderton seiner Geschichte lernt man als Leser schnell zu misstrauen. Ein grandios konstruierter Roman, der mit dem Krimigenre spielt, um männliche Identität und Gewaltverhältnisse subtil zu hinterfragen. Ein würdiger Gewinner des Österreichischen Buchpreises. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Norbert Gstrein: Als ich jung war. Hanser, 352 Seiten, 23,70 Euro.

Die Erbinnen der Magd

Über 30 Jahre nach ihrem Kultroman „Der Report der Magd“ – im Original: „The Handmaid’s Tale“, so heißt auch die danach entstandene TV-Serie – hat Margaret Atwood eine Fortsetzung geschrieben. Mit „Die Zeuginnen“ spinnt sie die Geschichte des düsteren Gottesstaats Gilead aus den Blickwinkeln dreier Frauen weiter. Clever vermeidet die Grande Dame der feministischen Dystopie Überschneidungen mit und mögliche Spoiler der TV-Serie. Und ja, man sollte den „Report der Magd“ vorher lesen, allerspätestens jetzt. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Aus dem Englischen übersetzt von Monika Baark. Berlin, 576 Seiten, 25,70 Euro.

Vom Dasein als Mensch

Wie das mit dem Heimweh funktioniert. Dass es nicht egal ist, wenn Schweigen als Zustimmung interpretiert wird. Wie die eigenen Kinder zwischendurch loszuwerden sind. Ja, anderen geht es auch oft so, und Till Raether, Kolumnist u. a. in „Süddeutsche Zeitung Magazin“ und „Brigitte“, ist einer von ihnen – nur dass er sehr gut darüber schreiben kann. Gelegentlich haben gesammelte Kolumnen etwas von einer faulen Lösung – hier trifft sich das gut, nur einer von Raethers Texten ist meistens ohnehin viel zu wenig. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Till Raether: Ich werd dann mal … Nachrichten aus der Mitte des Lebens. Rororo, 350 Seiten, 12,40 Euro.

Eine Auswahl von Romanen liegt auf weihnachtlichem Christbaumschmuck
ORF.at/Christian Öser

Bitterböse feministische Literaturbetriebssatire

Das Feuilleton befindet sich in heller Aufregung: Die längst vergessene Avantgardeautorin Helene Schulze hat es mit ihrem aktuellen Roman „Der Drohnenkönig“ auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Leider ist sie kurz vor der Bekanntgabe verstorben. Ihre Weggefährtin Elvira verteidigt mit Hilfe des willfährigen Kameramanns Adrian den Nachlass und den Ruf ihrer Freundin gegen die Indienstnahme durch Männer, die nie Helenes Bestes im Sinn hatten – und zwar mit Hilfe von künstlerischen Interventionen. Mit „Hippocampus“ legt Getraud Klemm einen bitterbösen feministischen Roman über Selbstbestimmung und die Fallstricke des Kulturbetriebs vor. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Gertraud Klemm: Hippocampus. Kremayr und Scheriau, 384 Seiten, 22,90 Euro.

Doppeltes Trauma

Der Zeithistoriker Christian Dürr hat einen packenden Roman über eine nach wie vor aktuelle Frage geschrieben: Wie kommen wir als Individuen und Gesellschaften mit den Nachwirkungen des Totalitarismus zurecht? In der Geschichte des Protagonisten Manuel Gluckstein stellt sich diese Frage gleich doppelt. Seine Eltern haben als ungarische Juden das KZ Mauthausen überlebt, er selbst wird in den 1970er Jahren von den Schergen der argentinischen Militärdiktatur gefangen genommen und gefoltert. Ein spannendes Debüt über Trauma, Vergangenheitsbewältigung und Gerechtigkeit. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Christian Dürr: Die Befreiung oder Marcelos Ende. Bahoe Books, 239 Seiten, 19,00 Euro.

Neues Ungemach in der Kleinstadt

In Furth am See ist Sommer. Zwischen Touristenidyll und alten Geheimnissen müssen sich Kommissar Kovacs und Psychiater Horn wieder mit Ungemach beschäftigen: Mehrere alte Menschen wurden augenscheinlich misshandelt, wollen aber nicht die Wahrheit darüber sagen. Ein Kind verschwindet. Paulus Hochgatterer überzeugt nach „Die Süße des Lebens“ und „Das Matratzenhaus“ erneut mit seinem nüchternen, aber liebevollen Blick auf die Menschen der fiktiven Kleinstadt, ihr Leiden und ihre Abgründe. (Johanna Grillmayer, ORF.at)

Paulus Hochgatterer: Fliege fort, fliege fort. Hanser, 288 Seiten, 23,70 Euro.

An der Grenze

Eine New Yorker Patchworkfamilie macht sich im Auto auf den Weg Richtung Süden. Der Vater recherchiert zu den letzten Apachenstämmen, die Mutter arbeitet an einem journalistischen Projekt zu Kindern, die aus Mittelamerika in die USA flüchten. Die beiden Kinder, vier und zehn Jahre alt, begeben sich plötzlich allein auf die Suche nach verschwundenen Flüchtlingskindern. In „Das Archiv der verlorenen Kinder“ wartet Valeria Luiselli mit grandiosen erzählerischen Einfällen auf und schafft das seltene Kunststück, eine politische Krise in wahrhaft große Literatur zu verwandeln. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Valeria Luiselli: Das Archiv der verlorenen Kinder. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Antje Kunstmann, 431 Seiten, 25,70 Euro.

Eine Auswahl von Romanen liegt auf weihnachtlichem Christbaumschmuck
ORF.at/Christian Öser