Protest in Indien
Reuters/Swarat Ghosh
„Lynchjustiz“ nach Vergewaltigung

Indien in gefährlicher Spirale der Gewalt

Erneut hat eine tödliche Vergewaltigung einer Frau in Indien weltweit Entsetzen ausgelöst. Landesweit kam es nach dem Vorfall vor gut einer Woche zu heftigen Protesten. Einmal mehr erschüttert die Grausamkeit der Tat, darüber hinaus geben jetzt auch die Folgen Anlass zur Sorge. Die gefährlichen Faktoren sind Wut, Ohnmachtsgefühle und Misstrauen in die Justiz.

Den Ermittlungen zufolge war die junge Frau, eine 27-jährige Tierärztin, in Shadnagar, einem Vorort der Technologiemetropole Hyderabad, von den vier Verdächtigen vergewaltigt, anschließend mit Benzin übergossen und verbrannt worden. Sie hatte kurz zuvor ihre Schwester per Handy alarmiert. Diese warf der Polizei später vor, auf ihre Anzeige zunächst nicht reagiert zu haben.

Bereits unmittelbar nach der Festnahme der mutmaßlichen Täter konnte die Polizei in Hyderabad nur mit Mühe eine aufgebrachte Menge davon abhalten, die Polizeistation zu stürmen, in der die vier Männer festgehalten wurden. Bei Protestkundgebungen im ganzen Land und in Sozialen Netzwerken wurden Rufe nach einer raschen und harten Bestrafung der mutmaßlichen Täter laut, Abgeordnete in Neu-Delhi riefen zu Lynchmord oder Kastration auf.

Mutmaßliche Täter bei Begehung erschossen

Neue Dynamik bekam der erschütternde Fall bei der Tatortbegehung in der Nacht auf Freitag. Die mutmaßlichen Täter waren anwesend. Die Nachstellung des Verbrechens endete mit vier Toten – die Polizisten erschossen die Männer, die allesamt noch nicht verurteilt waren. Offiziell hieß es seitens der Polizei, die Männer hätten versucht, die Waffen der Ermittler an sich zu reißen und zu fliehen. Bei einem Schusswechsel seien sie dann schließlich getötet worden.

Tatort in Indien
AP/Mahesh Kumar A
Bei der Tatortbegehung wurden die mutmaßlichen Täter von Polizisten erschossen

Freudenfeiern im ganzen Land

Nach dem Tod der vier Männer riegelte die Polizei das Untersuchungsgelände ab. Hunderte Menschen strömten zum Tatort, um die Polizisten zu feiern. Auch aus anderen Landesteilen wurden Freudenfeiern gemeldet. Die Schwester der Ermordeten sagte, der Tod der Verdächtigen erfülle sie mit Genugtuung. Ein Ex-Minister der regierenden hinduistisch-nationalistischen Partei BJP schrieb auf Twitter: „Lasst alle wissen, dass in diesem Land das Gute immer über das Böse siegt.“

Gleichzeitig wurde der Vorwurf laut, die Polizei habe „außergerichtliche Hinrichtungen“ vollzogen – Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen und -aktivisten zeigten sich entsetzt. Die über die Grenzen Indiens bekannte Menschenrechtsanwältin Vrinda Grover bezeichnete das Vorgehen der Polizei als „absolut inakzeptabel“. Gewalttaten müssten „Aufklärung und Strafverfolgung“ nach sich ziehen, keine „Morde“, sagte sie der Nachrichtenagentur AFP.

Fundort der Leiche
APA/AFP/Noah Seelam
An diesem Ort wurde die 27-jährige Frau nach der Vergewaltigung von ihren Peinigern verbrannt

Höchstrichter sieht „kaltblütigen Mord“

Die ehemalige Frauenministerin Maneka Gandhi sprach von einem „gefährlichen“ Vorfall. Morde könnten keine Alternative zum korrekten Rechtsverfahren sein, sagte sie. „Sie hätten sowieso für ihr abscheuliches Verbrechen gehängt werden müssen, aber man kann nicht einfach Waffen nehmen und Menschen töten, weil man das will“, sagte sie vor Journalistinnen und Journalisten. Auch wenn der Rechtsprozess langsam sei, gebe es kein Recht zur Selbstjustiz.

„Um die öffentliche Wut über staatliche Misserfolge bei sexuellen Übergriffen zu beschwichtigen, begehen indische Behörden eine weitere Verletzung“, sagte die für Südasien zuständige Vertreterin von Human Rights Watch (HRW), Meenakshi Ganguly. Der Richter am Obersten Gerichtshof, Utsav Bains, sprach von „kaltblütigem Mord“. Jetzt werde niemand mehr erfahren, wer wirklich hinter der Vergewaltigung und Ermordung der Frau stehe, sagte Bains. Er forderte eine umfassende Reform des Strafrechtssystems.

2017 wurden 33.000 Vergewaltigungen gemeldet

Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten werfen Polizei und Behörden regelmäßig vor, mit außergerichtlichen Tötungen Verfahren zu verhindern – oftmals, um die Aufarbeitung von eigenen Versäumnissen und Fehlverhalten zu verhindern. Den amtlichen Statistiken zufolge wurden im Jahr 2017 in Indien 33.000 Vergewaltigungen gemeldet, darunter mehr als 10.000 Vergewaltigungen von Minderjährigen. Nach Angaben von Expertinnen und Experten verzichten jedoch viele Opfer aus Angst vor einer Stigmatisierung auf eine Anzeige – die Dunkelziffer ist also noch weit höher.

Unterdessen starb nun auch eine 23-jährige Inderin, nachdem mehrere Männer sie vergewaltigt und Monate später mutmaßlich auch in Brand gesetzt hatten. Die Frau habe am Freitag einen Herzstillstand erlitten, sagte der Chef der Abteilung für Brandverletzungen, Shalabh Kumar, der Nachrichtenagentur Reuters. Ihre Haut sei zu 95 Prozent verbrannt gewesen. Auch die Luftröhre habe Verbrennungen erlitten, giftige heiße Gase hätten ihre Lungen gefüllt.

Die junge Frau wollte nach Polizeiangaben am Donnerstag im Distrikt Unnao im Unionsstaat Uttar Pradesh in einen Zug steigen, um zu einem Gerichtstermin wegen ihrer Vergewaltigung zu fahren, als sie mit Kerosin übergossen und angezündet wurde. Noch am gleichen Tag wurde sie zur Behandlung nach Neu-Delhi geflogen. Die Frau hatte im März bei der Polizei in Unnao Anzeige erstattet und erklärt, sie sei am 18. Dezember vergangenen Jahres von zwei Männern mit vorgehaltener Schusswaffe bedroht und vergewaltigt worden. Am Donnerstag wurde sie Medienberichten zufolge von fünf Männern überfallen, darunter den beiden mutmaßlichen Vergewaltigern. Alle fünf sind nach Polizeiangaben in Untersuchungshaft.