Englands Premier Minister Boris Johnson.
Reuters/Hannah Mckay
Wahlumfragen

Briten unberechenbar wie nie zuvor

Am Donnerstag wählt Großbritannien ein neues Unterhaus. Und glaubt man den Umfragen, scheint der Plan von Premier Boris Johnson aufzugehen: sich mit einer komfortablen Mehrheit wählen zu lassen, den Brexit durchzuziehen und fest im Sattel zu sitzen, ehe es ein womöglich böses Erwachen nach dem EU-Austritt gibt. Doch das mit den Umfragen ist in Großbritannien so eine Sache.

Schon beim EU-Referendum 2016 gingen fast alle Umfragen – genauso wie Expertinnen und Experten – davon aus, dass die Bevölkerung für den Verbleib in der Union stimmen würde. 2017 wiederum brach Premier Theresa May eine Neuwahl vom Zaun, um ihre absolute Mehrheit auszubauen. Sie vertraute dabei auch auf Umfragen, die ihr große Zuwächse prognostizierten. Das Gegenteil war der Fall: Sie verlor die „Absolute“ und musste sich die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) als Mehrheitsbeschaffer ins Boot holen.

Zwei Faktoren werden für die Schwierigkeiten bei den Umfragen ins Treffen geführt: das Mehrheitswahlsystem mit 650 Wahlkreisen, in denen das zumeist erhobene Abschneiden von Parteien im ganzen Land keine Aussagekraft hat, und eine enorm gesteigerte Zahl an Wechselwählern und Menschen, die ihre Wahlentscheidung aus taktischen Gründen fällen.

Umfragen sagen kaum etwas über Wahlkreise aus

Schon die landesweit von unterschiedlichen Instituten durchgeführten Umfragen weisen enorme Schwankungen von bis zu fünf Prozentpunkten plus und minus für die einzeln Parteien auf, was auch an der Art der Umfrage und der Anzahl der Befragten liegt: Klassische Telefonumfragen würden bei Weitem nicht mehr das ganze Gesellschaftsspektrum abdecken können, hieß es in einem „Guardian“-Bericht im September.

Onlineumfragen gelten gemeinhin als noch weniger zuverlässig. Für genauere Methoden müssten noch viel mehr Menschen befragt werden, vor allem weil Prozentangaben zwar ein Stimmungsbild, aber bei dem Mehrheitswahlrecht mit Wahlkreisen (in jedem Wahlkreis gewinnt jeweils die Person mit den meisten Stimmen) kaum gute Mandatsprognosen liefern können. Für nur in einzelnen Regionen antretende Parteien wie die Schottische Nationalpartei (SNP) sagen landesweite Umfragen freilich gar nichts aus: 2017 gewann sie 35 Sitze – mit drei Prozent aller Stimmen.

Nicola Sturgeon im Wahlkampf.
Reuters/Russell Cheyne
Die SNP mit Chefin Nicola Sturgeon könnte zum Zünglein an der Waage werden

Auch Wahlkreise schwer zu prognostizieren

Mit neueren statistischen Methoden versucht man, große landesweite Befragungen mit Zensusdaten zu verknüpfen. So will man unter anderem mit soziodemografischen Daten Wahlmuster herausfinden, die man dann auf einzelne Wahlkreise projizieren kann. Dem Institut YouGov gelang damit 2017 eine recht genaue Prognose, andere Berechnungen mit der gleichen Methode lagen weit daneben. Sogar unterschiedliche Umfragen für einzelne Wahlkreise lieferten in den vergangenen Wochen oft höchst unterschiedliche Ergebnisse.

Unberechenbare Wechselwähler

Als Hauptgrund für die schwierige Prognose scheint, dass sich die politische Landschaft in Großbritannien verändert hat. Während der Vorherrschaft der beiden Großparteien, Konservative und Labour, seien Vorhersagen noch recht einfach gewesen, heißt es. Doch mittlerweile gibt es auch in Großbritannien viel mehr Wechselwähler: 1963 wählten nur zwölf Prozent eine andere Partei als bei der Wahl zuvor, schreibt die „Financial Times“. 2015 waren es 42 Prozent, bei der – für die Briten allerdings nicht mehr sehr relevanten – EU-Wahl heuer sogar über 70 Prozent.

Dass alte „Volksparteien“ ihre Stammwähler verlieren, ist zwar ein internationaler Trend, in Großbritannien wird das aber durch mehrere Faktoren noch befeuert: Meinungsforscher beklagen, dass jene Wählerinnen und Wähler am unberechenbarsten seien, die eigentlich einer der Großparteien zugerechnet werden können, deren Brexit-Kurs aber nicht unterstützen, also konservative EU-Befürworter und Labour wählende „Brexiteers“. Die Haltung zum Brexit sorgt auch für taktisches Wahlverhalten: „Remainers“ wählen den EU-freundlichen Kandidaten, Brexit-Befürworter den EU-kritischen, egal welcher Partei er jeweils angehört.

Die Konservativen haben hier Startvorteile, weil die Brexit-Party von Nigel Farage etliche Kandidaturen zurückzog. Die tendenziell EU-freundlichen Parteien, Labour, Liberaldemokraten und Grüne – in Schottland auch noch die SNP – konnten sich jedoch kaum auf Wahlgemeinschaften einigen.

Polarisierende Spitzenkandidaten

Schließlich sorgen auch die polarisierenden Spitzenkandidaten von Labour und Torys für Umwälzungen. Der polternde Premier Johnson mit seinem Rechtskurs ist vor allem für die gemäßigten Konservativen ein schwieriges Angebot. Das zeigte sich auch deutlich, als in den vergangenen Monaten etliche Tory-Schwergewichte auf weitere Kandidaturen verzichteten oder die Partei sogar verließen. Umgekehrt konnte Johnson Wählergruppen gewinnen, die sich früher durch die EU-feindliche UKIP angesprochen fühlten – und freilich viele nach rechts gerückte Labour-Wähler.

Englands Premier Minister Boris Johnson
Reuters/Hannah Mckay
Mit dem Slogan „Get Brexit done“ zieht Johnson durchs Land

Corbyns kaum nachvollziehbarer Brexit-Kurs

Labour-Chef Jeremy Corbyn wieder verschreckte mit seinem Linkskurs (Stichwort Wiederverstaatlichungen von Bahn und Infrastruktur) viele moderate Wählerinnen und Wähler. Sein über Jahre völlig unklarer Brexit-Kurs vertrieb ebenso Anhänger. Derzeit will man im Falle eines Wahlsiegs ein zweites Brexit-Referendum abhalten, aber bei diesem eher keine Empfehlung abgeben.

Außerdem wurde Corbyn durch sein zumindest kritikwürdiges Verhältnis zum ihm vorgeworfenen Antisemitismus geschwächt. Umgekehrt konnte die Corbyn unterstützende Momentum-Bewegung viele junge Menschen für Labour begeistern. Und fraglich ist, wie gut sein Wahlkampfthema Nummer eins zieht, der Vorwurf an Johnson, er würde den Gesundheitsdienst NHS an die USA verschachern wollen.

Jeremy Corbyn posiert für Fotos mit seinen Fans
Reuters/Phil Noble
Corbyn stößt auf viel Zuspruch, aber auch viel Ablehnung

Viel Bewegung in Umfragen

Wie sehr die britische Politlandschaft in Bewegung ist, zeigen auch die „Polltracker“-Seiten britischer Medien, in denen versucht wird, aus allen veröffentlichten Umfragen Trends herauszulesen. Und da zeigt sich für die vergangenen Monate ein beeindruckendes Bild für die Bewegung in der britischen Politik: Zu Beginn des Jahres ging es für Konservative und Labour in den Sinkflug, für Liberaldemokraten und die Brexit-Party ging es steil bergauf.

Wahstimmenverteilung in der letzten Zeit
Guardian News & Media Limited
Umfragenverlauf als Achterbahn

In den Monaten Juni und Juli hatte es den Anschein, als ob einander vier annähernd gleich starke Parteien ein Match liefern würden. Vom Ende der Vorherrschaft des klassischen Zweiparteiensystems in Großbritannien war die Rede.

Torys zogen wieder davon

Die Lage änderte sich erst, als Johnson von der Konservativen zum Parteichef und damit auch zum Premier gewählt wurde. Die Torys setzten mit seinem Brexit-Versprechen trotz aller Turbulenzen, Skandale und Skandälchen rund um seine Person zum Höhenflug an. Auch Labour konnte sich – weit dahinter – von den anderen absetzen. Die Brexit-Partei stürzte ab, und auch für die Liberaldemokraten mit der neuen Chefin Jo Swinson ging es wieder bergab.

Zuletzt stabilisierten sich die Torys bei – zählt man alle Umfragen zusammen – bei 42 bis 43 Prozent. Für Labour hielt der Aufwärtstrend in den vergangenen Tagen noch an, mit rund 33 Prozent ist man trotzdem weit abgeschlagen.

„Wahrscheinlichkeiten“ und „Wunder“

Trotz dieses Vorsprungs sind Meinungsforscher und Kommentatoren vorsichtig: Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass Johnson die Wahl mit einer komfortabel abgesicherten absoluten Mehrheit gewinne. Aber sicher sei es nicht. In einer am Dienstag veröffentlichten YouGov-Umfrage mit 100.000 Befragten schrumpfte der Tory-Vorsprung gegenüber einer November-Umfrage mit derselben Methodik deutlich.

Eine Parlamentsmehrheit für Labour wäre dagegen ein „großes Wunder“, sind sich Beobachter einig. Und ein „kleines Wunder“ wäre es, wenn Labour es schafft, die meisten Abgeordneten zu stellen, aber in einem „Hung Parliament“ – wie es die aktuelle YouGov-Umfrage nicht ausschließt – auf andere Partei angewiesen ist, um den Premier zu stellen. Die Liberaldemokraten haben bereits ausgeschlossen, mit Corbyn zu kooperieren. Die SNP will ebenfalls keine Koalition mit ihm eingehen, kann sich aber Unterstützung vorstellen – wohl wenn man im Gegenzug die Zusage für ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum erhält.