Rede von Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk
Reuters/TT News Agency/Jonas Ekstromer
Nobelpreisrede

Tokarczuks Plädoyer für die Sensibilität

Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk erhält den Literaturnobelpreis für das Jahr 2018 – weil damals keine Verleihung stattfand, wird diese heuer nachgeholt. In ihrer Rede arbeitete sie sich am Samstag am Schlechten in der Welt ab. Als Erzählerin sei es ihre Aufgabe, sensibel zu sein.

Die Nobelpreise werden am Dienstag in Stockholm feierlich übergeben. Ihre Nobelpreisrede hielt Tokarczuk bereits am Samstag, kurz vor Peter Handke, der den Preis für 2019 erhält. Bereits im Vorfeld sagte Tokarczuk, stolz zu sein, den Preis zu erhalten. „Ich bin stolz, die 15. Frau zu sein, die den Nobelpreis erhält, 110 Jahre nach der ersten Frau Selma Lagerlöf. Ich bin davon überzeugt, dass ich ihn nicht bekomme, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich Bücher schreibe.“

Ihre Nobelvorlesung in der Schwedischen Akademie hielt Tokarczuk unter dem Titel „Der sensible Erzähler“. Sie begann mit der Beschreibung des ersten Fotos, an das sie sich erinnern könne, eine Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Mutter, die auf der Aufnahme verloren und traurig wirke. Bereits als kleines Kind habe sie danach gefragt, was der Grund dieser Traurigkeit sei, und zur Antwort erhalten, sie, Olga, sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren gewesen und wäre bereits von ihr vermisst worden. „Dieser kurze Austausch, irgendwo auf dem Land in Westpolen in den späten 60er Jahren, ein Austausch zwischen meiner Mutter und mir, ihrem kleinen Kind, ist mir immer in Erinnerung geblieben und hat mir einen Vorrat an Kraft gegeben, der mein ganzes Leben lang Bestand hat.“

„Chor aus Solostimmern, der sich nicht vereint“

„Die Welt ist ein Stoff, den wir täglich auf den großen Webstühlen von Informationen, Diskussionen, Filmen, Büchern, Klatsch und kleinen Anekdoten weben. Heutzutage ist die Reichweite dieser Webstühle enorm – dank des Internets kann fast jeder in diesem Prozess Verantwortung übernehmen oder nicht, liebevoll und hasserfüllt, zum Guten und zum Schlechten. Wenn sich diese Geschichte ändert, ändert sich auch die Welt. In diesem Sinne besteht die Welt aus Worten.“ Wer über sie und damit über die Geschichten verfüge, sei verantwortlich.

„Wir leben in einer Realität polyphoner Ich-Erzählungen und sind von allen Seiten mit polyphonem Lärm konfrontiert.“ Dieser riesige Chor aus lauter Solostimmen, die für sich um Aufmerksamkeit buhlten, verbinde sich jedoch zu keiner gemeinsamen Geschichte, aus der eine universelle Parabel, ein gemeinsames Gleichnis entstehe. „Dass wir das Gleichnis weitgehend aus den Augen verloren haben, ist ein Zeugnis unserer gegenwärtigen Hilflosigkeit.“

Wunsch nach einer weiteren Perspektive

In Zeiten, in denen sich Bilder und Bewegtbilder sekundenschnell über den Erdball verbreiteten, schienen jedoch Worte und Texte zur Vermittlung nicht mehr nötig. Sie habe das Gefühl, dass gerade dadurch die Welt „unwirklich, fern, zweidimensional und seltsam unbeschreiblich“ werde. Das Gefühl, dass etwas falsch laufe, verbreite sich. „Heutzutage ist dieses Gefühl, das einst neurotischen Dichtern vorbehalten war, wie eine Epidemie der Unbestimmtheit, eine Form der Angst, die aus allen Richtungen sickert.“ Zusammenhänge würden nicht mehr erkannt, die Welt zerbreche in lauter Einzelerscheinungen. Die Folge: „Die Welt stirbt, und wir bemerken es nicht.“

Angesichts der heutigen globalen Bedrohungen träume sie von einem „Vierte-Person-Erzähler“, der es „schafft, die Perspektive eines jeden Charakters zu erfassen und über den Horizont eines jeden hinauszugehen, der mehr sieht und einen weiteren Blick hat und die Zeit ignorieren kann“. Schon in der Bibel stehe geschrieben: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Wer aber konnte dies wissen – und dieses Wissen festhalten?

Schuldgefühl gegenüber nächsten Generationen

Sensibilität sei für sie als Erzählerin von großer Bedeutung. „Sensibilität personalisiert alles, worauf es sich bezieht, und ermöglicht es, ihm eine Stimme zu geben, ihm den Raum und die Zeit zu geben, um zu existieren und ausgedrückt zu werden. Es ist der Sensibilität zu verdanken, dass die Teekanne zu sprechen beginnt.“ Sie habe keine Ahnung, unter welchen Bedingungen die Nachgeborenen leben werden, die später einmal das lesen, was heute geschrieben werde. „Ich denke oft mit Schuldgefühlen und Scham an sie.“

„Die Klimakrise und die politische Krise, mit der wir jetzt umzugehen versuchen und die wir unbedingt bekämpfen wollen, indem wir die Welt retten, kommen nicht aus dem Nichts heraus. Wir vergessen oft, dass sie nicht nur das Ergebnis einer Wendung des Schicksals ist, sondern auch Resultat einiger sehr spezifischer Entscheidungen – wirtschaftlich, sozial und weltanschaulich (religiöse Weltanschauungen inkludiert).

Gier, Missachtung der Natur, Selbstsucht, mangelnde Vorstellungskraft, endlose Rivalität und Verantwortungslosigkeit haben die Welt zu einem Objekt gemacht, das in Stücke geschnitten, verbraucht und zerstört werden kann. Deshalb glaube ich, dass ich Geschichten erzählen muss, als ob die Welt eine lebendige, einzelne Einheit wäre, die ständig vor unseren Augen entsteht, und als ob wir ein kleiner und gleichzeitig mächtiger Teil davon wären“, schloss Olga Tokarczuk.