Rede von Literaturnobelpreisträger Peter Handke
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Handkes Nobelpreisrede

Das Ich und die Überwindung der Schuldfrage

Mit Spannung war Peter Handkes Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises erwartet worden. Am Samstag, wenige Tage bevor Handke dann die Auszeichnung entgegennimmt, wurde das Geheimnis gelüftet. Es wurde kein Rundumschlag, keine Entschuldigung. Aber eine Ode an die poetische Kraft des Ichs. Handke leitete sein Schreiben aus den Erzählungen der Mutter her. Und empfahl schließlich die Überwindung aller Schuldfragen.

„Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts.“ Mit einer Passage aus seinem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ (1981) eröffnete Handke wenige Minuten vor 18.00 Uhr am Samstag in Stockholm seine Nobelpreisrede. Handke beschwor in seiner Rede die persönliche Herkunft seines Schreibens. Die Geschichten, die ihm die Mutter erzählt hatten, die sich verfingen. Handke erinnerte sich dabei an Geschichten, die er mit slowenischen Begriffen oder auf Slowenisch gehört hatte. „Nur dadurch kann ich reden, wie ich reden werde.“

Auf die Erzählungen der Mutter und die Figuren sei er immer wieder zurückgekehrt, beschwor Handke die Wurzel seines Schreibens. Die Personen und Begebenheiten und Erzählungen der Kindheit „geisterten“ immer wieder durch sein Werk und hätten in diesem Metamorphosen erfahren. Die Geschichte von der Mutter vom Kind, das sich im Zaun verfangen hatte („dieses Kind war ich“) etwa sei als Lied im „Kurzen Brief vom langen Abschied“ als Brief wiedergekehrt.

„Überliefert das Rauschen“

Mit einer Rede aus der Position des dramatischen Ich wandte sich Handke emotional und mit immer wieder versagender Stimmte an sein Publikum in der Gegenwart. „Überliefert das Rauschen, erzählt den Horizont“, so Handke in einer poetischen Rede, die nicht mehr zwischen Tätern und Opfern unterschied. Poetologie traf sich spätestens in diesem Moment mit Liturgie: „Keiner von euch ist der Schuldige.“ Das Ich, so Handke, sei „dem Menschen die erhaltende Natur“: „Wir stehen Gelb in Gelb in den gelben Blütenkelchen. Die Verneigung vor der Blume ist möglich.“ Es stimme, dass es in eurer Geschichte keinen stichhaltigen Trost gebe: „Wisst, wie ihr gleich seid.“ Die Natur sei das einzige stichhaltige Versprechen: „Sie gibt das Maß.“

„Wer sagt, dass das Scheitern notwendig ist?“, so Handke: „Habt ihr euren Krieg nicht hinter euch? So verstärkt eure friedliche Gegenwart. Zeugt das Friedenskind, rettet eure Helden. Ihr sollt bestimmen: Krieg, lass uns in Ruhe. (…) Jetzt ist der heilige Tag. Könnt ihr ihn fühlen?“

„Seht das Wunder und vergesst es“, so Handke, der aufrief, noch einmal „über die Dörfer zu gehen“.

Mit Erinnerungen an zwei persönliche Begegnungen in Norwegen und einem im Original vorgetragenen Gedicht des früheren schwedischen Nobelpreisträgers Thomas Tranströmer schloss Handke seine Rede. Am Dienstag wird Peter Handke dann gemeinsam mit seiner Kollegin Olga Tokarczuk, die am Samstag vor Handke ihre Rede hielt, den Literaturnobelpreis entgegennehmen. Der ORF überträgt live.

Starre Fronten bei der Pressekonferenz am Freitag

Am Freitag, zugleich Handkes 77. Geburtstag, hatte der Schriftsteller eine Pressekonferenz abgehalten, die auch nicht so angelegt war, dass sie den Kritikern den Wind aus den Segeln genommen hätte. Im Gegenteil. Eine erste Frage zu seiner Haltung in der Jugoslawien-Frage wischte er in der Pressekonferenz am Freitag zunächst beiseite: „Es ist eine lange Geschichte. Eine Antwort zu geben, die Geschichte nochmals zu erzählen, dafür ist hier nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte er.

Die Entscheidung der Schwedischen Akademie, Handke den Preis zuzusprechen, hat ja die alte Debatte über die Haltung des Schriftstellers im Jugoslawien-Konflikt wieder hochkochen lassen. Handke hatte damals seine Solidarität mit Serbien bekundet und relativierende Aussagen zum Völkermord von Srebrenica gemacht.

Schriftsteller Peter Handke gibt eine Pressekonferenz
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Handke: „Ich schreibe nicht mit Meinungen. Ich habe niemals eine Meinung gehabt, ich hasse Meinungen.“

„Ich hasse Meinungen“

Auf das Nachhaken der Journalistinnen und Journalisten reagierte Handke unwirsch: „Ich schreibe nicht mit Meinungen. Ich habe niemals eine Meinung gehabt, ich hasse Meinungen“, sagte er auf die Frage, ob er seine Ansichten zum Balkan-Konflikt geändert habe. Er möge Literatur, nicht Meinungen.

Besonders hitzig verlief der Austausch zwischen Handke und dem US-Journalisten Peter Maass. Der frühere Kriegsberichterstatter hatte als Erster über Handkes jugoslawischen Pass berichtet. Als Maass auf Srebrenica zu sprechen kam, holte Handke einen an ihn gerichteten englischsprachigen Brief heraus, in dem der Verfasser Handke unter anderem das Ignorieren gesicherter Fakten vorwirft und ihn dabei mit US-Präsident Donald Trump vergleicht.

„Ich bevorzuge Klopapier, anonyme Briefe mit Toilettenpapier im Inneren, gegenüber Ihren leeren, ignoranten Fragen“, meinte Handke in Richtung der Journalisten. In den letzten acht, neun Wochen habe er zahllose wundervolle und herzliche Briefe von Lesern erhalten, denen er an dieser Stelle öffentlich danken wolle, sagte Handke. Der vorgelesene Brief sei der einzige zu dem von den Medien immer wieder breitgetretenen Thema gewesen, so Handke. Als der Wortwechsel zu eskalieren drohte, beendete die Akademie die Pressekonferenz. Handke erhielt Schlussapplaus und trat ab.

Keine Geste der Versöhnung

Während der Pressekonferenz nahm Handke auch Stellung zu einer von ihm angekündigten Geste der Versöhnung. Nach eigenen Angaben wollte er zwei Mütter besuchen – „eine auf serbischer Seite und eine auf muslimischer Seite“ –, die Kinder im Krieg verloren hätten. Dazu wird es aber nicht kommen: Ein Freund in Bosnien habe ihm gesagt, dass das im Moment nicht möglich sei.

Für die Nobelpreiszeremonie am Dienstag sind Proteste gegen Handke angekündigt. Eine Möglichkeit zum Dialog mit den Demonstrantinnen und Demonstranten sieht Handke offenbar nicht. Er habe bereits bei der Vergabe des Ibsen-Preises in Oslo vor vier oder fünf Jahren versucht, mit Demonstrierenden zu sprechen. „Es gab eine Menge ‚Faschist, Faschist‘-Rufe. Ich bin angehalten, wollte mit diesen Damen und Herren sprechen. Aber sie wollten nicht.“ Wenn jemand einen Rat habe, wie er den jetzigen Protesten begegnen solle, dann nehme er diesen gern an.

Boykott von Akademie-Mitglied

Autor Peter Englund, Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, wird dieses Jahr die Zeremonie wegen Handke boykottieren. „Ich werde nicht an der diesjährigen Nobelwoche teilnehmen. Peter Handkes Nobelpreis zu feiern wäre für mich eine grobe Heuchelei. Das ist alles, was ich im Moment zu sagen habe“, so Englund in einer Mail an die schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“.

Der 62-jährige Schriftsteller hatte in den 1990er Jahren für die schwedische Tageszeitung vom Balkan-Krieg berichtet. Englund hatte seine Botschaft wenige Stunden vor der offiziellen Nobelpreispressekonferenz platziert.

Tokarczuk stolz auf Auszeichnung

Ungeachtet der Debatte über Handke zeigte sich die polnische Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk stolz auf ihre Auszeichnung. „Ich bin stolz, die 15. Frau zu sein, die den Nobelpreis erhält, 110 Jahre nach der ersten Frau Selma Lagerlöf. Ich bin davon überzeugt, dass ich ihn nicht bekomme, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich Bücher schreibe“, sagte die Preisträgerin bei ihrer Pressekonferenz am Freitag. Sie gehe fest davon aus, dass es in Zukunft mehr Preisträgerinnen geben werde. Zur Kontroverse über Handke äußerte sie sich nicht.

Autorin Olga Tokarczuk
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„Ich bin davon überzeugt, dass ich ihn (den Nobelpreis, Anm.) nicht bekomme, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich Bücher schreibe“, sagte Tokarczuk

Was ihr bei der Recherche zu ihrem Werk „Die Jakobsbücher“ begegnet sei, sei die Tatsache, dass Frauen in der Geschichtsschreibung zu wenig beachtet würden, sagte die 57-Jährige. Das gelte etwa für die Frauen, die in der Solidaritätsbewegung in Polen aktiv waren. „Das passiert nicht, weil sie sich nicht beteiligt haben oder nicht aktiv waren, sondern weil das nicht dokumentiert wurde. Diese Nichtdokumentation geht bis heute weiter“, sagte die Preisträgerin.

Ihre Auszeichnung widme sie dem Kampf gegen autoritäre Entwicklungen. „Meine spontane Reaktion ist gewesen, diesen Preis der politischen Bewegung in Polen zu widmen“, sagte sie. „Wir sind eine gespaltene Gesellschaft“, sagte sie über ihr Heimatland.