Militärmitglieder aus Bolivien
Reuters/Luisa Gonzalez
Südamerika

Das Comeback der Generäle

Ausgangssperren, Ausnahmezustand und Panzer auf den Straßen: Die Reaktionen von südamerikanischen Regierungen auf die sozialen Proteste erinnern an das Vorgehen früherer Militärdiktaturen Lateinamerikas. Nach Brasilien ist nun auch in Peru, Ecuador, Chile und Bolivien das Militär endgültig an die Schaltstellen der Macht zurückgekehrt – und benimmt sich einer Forscherin zufolge wie ein „Elefant im Porzellanladen“.

Wenn südamerikanische Länder mit politischen, sozialen und institutionellen Krisen konfrontiert seien, setzten die jeweiligen Präsidenten auf die Unterstützung des Militärs, schreibt BBC Mundo in einem Artikel. Und dieser Rückhalt wird auch öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt.

Dabei handle es sich immer um schwache Regierungen, die nicht imstande seien, eine Krisensituation zu lösen und sich daher ans Militär wenden, wird Rut Diamint, Forscherin beim Nationalen Wissenschaftlichen und Technischen Forschungsrat (CONICET) in Argentinien, zitiert. Das Militär sei oft die einzige stabile, organisierte Institution im Land, die teilweise auch auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen kann.

Schwache politische Institutionen, starkes Militär

Laut dem aktuellen Latinobarometro 2018, einer in 18 lateinamerikanischen Ländern durchgeführten Studie, vertrauten nur 13 Prozent der Bevölkerung politischen Parteien und nur 22 Prozent der eigenen Regierung – hingegen 63 Prozent der katholischen Kirche, 44 Prozent dem Militär und 35 Prozent der Polizei. Nur in Venezuela liege die Zustimmung zum Militär bei niedrigen 19 Prozent.

Das mangelnde Vertrauen in die politischen Systeme sei einer der Gründe für die aktuellen Krisensituationen in südamerikanischen Ländern, so Diamint. Volatile, also wechselnde Parteien und Parlamente, die nur die Politik des Präsidenten umsetzten, würden eine autonome Legislative untergraben. Das Resultat seien schwache Institutionen, korrupte Regierungen und die Verarmung der Bevölkerung.

Peru: Militär wendet sich an die Öffentlichkeit

So löste etwa in Peru die Besetzung der Richterposten am Verfassungsgerichtshof eine institutionelle Krise aus und ließ den Machtstreit zwischen Präsident Martin Vizcarra und dem von der Opposition dominierten Parlament Ende September eskalieren. Vizcarra löste das Parlament auf und kündigte eine Neuwahl an, woraufhin dieses den Präsidenten temporär suspendierte. Als Reaktion auf seine Suspendierung postete Vizcarra ein Foto auf dem offiziellen Twitter-Account der Regierung und versicherte, dass hochrangige Militärangehörige die konstitutionelle Ordnung und ihn als Präsidenten unterstützten, schreibt BBC Mundo.

In einem Aufruf an die Öffentlichkeit (Pronunciamiento) anerkannten die peruanischen Streitkräfte, die Armee, die Marine und die Flugstreitkräfte sowie die nationale Polizei Vizcarra als obersten Chef („jefe supremo“) und sprachen ihm ihre uneingeschränkte Unterstützung aus.

„Radikaler Einsatz von Gewalt“ in Ecuador

Ähnlich sah es in Ecuador aus: Am Höhepunkt der Proteste im Oktober sicherte sich auch Präsident Lenin Moreno den Rückhalt des Militärs. Bei der Verkündigung der Verlegung des Regierungssitzes von der Hauptstadt Quito in die Küstenstadt Guayaquil in einer TV-Ansprache wurde Moreno nicht nur von Vizepräsident Otto Sonnenholzner und Verteidigungsminister Oswaldo Jarrin flankiert, sondern er positionierte auch hochrangige Mitglieder des Militärs hinter sich. Im Kurzbotschaftendienst Twitter postete Moreno ein Foto der Inszenierung und dankte den Streitkräften und der Polizei für die „Verteidigung der Demokratie“.

Am selben Tag sprach Verteidigungsminister und General in Reserve Jarrin im TV-Sender Teleamazonas von einem „radikalen Einsatz von Gewalt“ und dem Einsatz von tödlichen Waffen, wenn „strategische Installationen“ attackiert würden – als „Akt der Verteidigung“. Gegen „kriminelle Akte oder Terrorismus“ werde man mit der notwendigen Gewalt vorgehen. Man solle nicht vergessen, dass die ecuadorianischen Streitkräfte Kriegserfahrung haben, so Jarrin in dem Interview. Mit Militärpräsenz und Panzern auf den Straßen wurde die öffentliche Ordnung wiederhergestellt.

Pinera: „Wir befinden uns im Krieg“

Auch in Chile verschärfte sich die martialische Rhetorik gegen den „Feind“. Nach teils gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen Geschäfte geplündert und zahlreiche U-Bahn-Stationen zerstört wurden, verhängte Chiles Präsident Sebastian Pinera im Oktober den Ausnahmezustand: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Gegner, der nichts und niemanden respektiert, der bereit ist, grenzenlose Gewalt und Kriminalität anzuwenden.“ Die Zeitung „La Tercera“ postete dazu ein Foto des Präsidenten, der dicht umringt von Militärangehörigen sein Statement abgab. „No estamos en guerra“ („Wir sind nicht im Krieg“) lautete die Antwort der Bevölkerung auf Plakaten bei friedlichen Protesten und in Sozialen Netzwerken.

Wie sehr der Militarismus jedoch wieder aktuell geworden ist, zeigte ein ganzseitig bezahltes Inserat zum Jahrestag des Militärputsches durch Augusto Pinochet in der Tageszeitung „El Mercurio“. Unter dem Titel „11/9/1973 Chile rettete sich davor, so zu sein, wie Venezuela heute ist“ wurde ausgeführt, dass der damalige Präsident Salvador Allende ein marxistisches totalitäres Regime angestrebt hatte und dank Pinochet gestoppt werden konnte – unterzeichnet von 60 Personen, darunter laut CNN Chile ein ehemaliger Journalist von „El Mercurio“ und ein Ex-Kommandant. Die Menschenrechtsverletzungen unter Pinochet wie Morde, Entführungen und Folter wurden mit keinem Wort erwähnt.

Militär „riet“ Morales zum Rücktritt

In Bolivien erwies sich das Militär im Machtkampf als Zünglein an der Waage. Präsident Evo Morales sah sich nach der Wiederwahl im November mit Manipulationsvorwürfen konfrontiert – nachdem die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in ihrem Bericht ebenso von Unregelmäßigkeiten sprach, stimmte Morales einer Neuwahl zu. Kurz danach „riet“ der damalige Kommandant der bolivianischen Streitkräfte, der als enger Vertrauter von Morales galt, öffentlich zum Rücktritt, Morales beugte sich dieser Aufforderung und begab sich ins Asyl. Jeanine Anez erklärte sich daraufhin zur Interimspräsidentin. Anlässlich der Angelobung postete der bolivianische Politiker Oscar Ortiz ein weiteres emblematisches Foto, so BBC Mundo: Zu sehen ist ein Militärangehöriger, der Anez die Präsidentenschleife umlegt.

Nur einen Tag nach Amtsübernahme tauschte sie die gesamte militärische Führung des Landes aus, nachdem diese zuvor ihren Rücktritt angeboten hatte. „Der Staat braucht das Militär, um den Frieden aufrechtzuerhalten“, sagte Anez bei der Angelobung der neuen Kommandanten, wie der TV-Sender Unitel berichtete. Eine der ersten Maßnahmen von Anez in ihrer Funktion als Übergangspräsidentin war laut CNN Chile ein umstrittenes Dekret, das die Streitkräfte vor einer strafrechtlichen Verfolgung schützte – bei Operationen zur „Befriedung des Landes“. Mittlerweile habe Anez das Dekret wieder aufgehoben.

Neue Formen des Militarismus

Während Militärdiktaturen der Vergangenheit angehörten, habe sich in Südamerika in den letzten Jahren ein „neuer Militarismus“ entwickelt, so Diamint laut BBC Mundo. Dabei handle es sich um „neue Formen der militärischen Macht“. Mittels „Politisierung“ des Militärs erhalte dieses immer mehr Einfluss in Regierungen, viele Militärangehörige verließen ihre Militärlaufbahn und stiegen in die Politik um. Als Ausnahme könne hierbei Venezuela gesehen werden – durch den verstorbenen ehemaligen Präsidenten und Oberleutnant Hugo Chavez sei das Militär bereits seit 1999 fest in der venezolanischen Politik verankert.

Jair Bolsonaro
AP/Eraldo Peres
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro am 25. August bei Feierlichkeiten zu Ehren der Soldaten („Soldatentag“) in Brasilia

Als Beispiel für diesen neuen Militarismus kann der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro genannt werden, der vor einem Jahr die Präsidentschaftswahl gewann. Er fällt regelmäßig durch seine offene Sympathie für das ehemalige Militärregime sowie durch frauenfeindliche und hetzerische Rhetorik auf. Im Wahlkampf sorgte Bolsonaro für Aufregung, als er versprach, „das Land von Sozialisten zu säubern“. Sowohl er als auch sein Vizepräsident Hamilton Mourao sind ehemalige Mitglieder der brasilianischen Streitkräfte: Bolsonaro ein Reservist im Rang eines Hauptmanns, Mourao ein General im Ruhestand. Ein Drittel von Bolsonaros Kabinett hat einen militärischen Hintergrund, Hunderte weitere arbeiten in unteren Regierungsebenen.

Militär wie ein „Elefant im Porzellanladen“

Dieser „neue Militarismus“ zeige sich auch darin, dass Regierungen vermehrt auf den Einsatz des Militärs zurückgreifen, um die Sicherheit im Land wiederherzustellen, so Diamint. Die Polizei sei korrupt, überfordert und oft in das organisierte Verbrechen verwickelt. Dabei agiere das Militär jedoch wie ein „Elefant im Porzellanladen“, weil es nicht für die Aufgaben der Polizei ausgebildet sei. Vielmehr sei es darauf trainiert, gegen einen Feind hart vorzugehen und diesen zu vernichten. Die Folge: eine exzessive Anwendung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen.

UNO prangert Menschenrechtsverletzungen in Chile an

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisierten wiederholt ein unangemessen gewaltsames Vorgehen von Militär und Polizei. In Ecuador, Chile und Bolivien starben bei Protesten Dutzende Menschen, Tausende wurden verletzt. Laut einem Bericht des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte vom Dezember gab es in Chile schwere Verletzungen, Misshandlungen, Folter und Vergewaltigungen sowie einige Todesopfer, deren Ableben mit den Sicherheitskräften in Verbindung gebracht wird.

Das harte Vorgehen gegen Demonstrierende rechtfertigen die Regierungen mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Mit derselben Begründung verfolgen sie ihre politischen Gegner, die für die „bewaffneten Aufstände“ und Destabilisierung der Länder verantwortlich gemacht werden.