Ein Mann betritt ein Wahllokal
Reuters/Thomas Mukoya
Großbritannien

Schicksalswahl im Bann des Brexits

Großbritannien wählt am Donnerstag ein neues Unterhaus – und für viele Britinnen und Briten ist klar: Es ist die wohl richtungsweisendste Wahl seit Jahrzehnten. Denn es geht um die Zukunft des Brexits und darum, der Hängepartie im Parlament ein Ende zu setzen. Profitieren dürfte letztendlich die Tory-Partei. Doch sowohl Premier und Brexit-Hardliner Boris Johnson als auch Labour-Chef Jeremy Corbyn sind denkbar unpopulär.

Johnsons Tory-Partei verspricht im Wesentlichen, den EU-Austritt Ende Jänner über die Bühne zu bringen und die darauffolgende Übergangsphase nicht über Dezember 2020 zu verlängern. Dafür braucht er eine stabile Mehrheit. Eine Situation wie jene seiner Vorgängerin Theresa May, die mit ihrem Brexit-Deal dreimal im Unterhaus scheiterte, ist Johnson bemüht zu umgehen. Corbyn versprach wiederum, einen neuen Deal mit enger Bindung an die EU auszuhandeln, und stellte ein weiteres Referendum in Aussicht.

Geht es nach den Umfragen, dann dürften die Konservativen mit ihrer „Get Brexit Done“-Kampagne tatsächlich die erhoffte satte Mehrheit einfahren. So kamen sie auch bei einer der letzten Umfragen vor der Wahl auf 43 Prozent bzw. 339 der insgesamt 650 Mandate. 34 Prozent stimmten bei der Umfrage des Instituts YouGov für Labour – die Partei konnte leicht aufholen.

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Premierminister Johnson mit Hund vor Wahllokal
AP/Frank Augstein
Premier Boris Johnson hatte bereits früh die Stimme abgegeben
Jeremy Corbyn bei der Stimmabgabe
APA/AFP/Tolga Akmen
Labour-Chef Jeremy Corbyn versuchte am Donnerstag, seine Wählerschaft zu mobilisieren
Wahllokal in einer Wäscherei
AP/Matt Dunham
Am Wahltag wurde zunächst keine Schmutzwäsche mehr gewaschen
Nicola Sturgeon gibt ihr Stimme ab
AP/Scott Heppell
Die schottische Regierungschefin und Labour-Chefin Nicola Sturgeon bei der Stimmabgabe
Jo Swinson kommt aus dem Wahllokal
Reuters/Gonzalo Fuentes
Die Chefin der proeuropäischen Liberaldemokraten, Jo Swinson, könnte im Fall eines „Hung Parliament“ zum Zünglein an der Waage werden
DUP-Chefin Arlene Foster vor der Stimmabgabe
AP/PA/Brian Lawless
DUP-Chefin Arlene Foster, die derzeit in einer Koalition mit Johnson ist
Britsiche Polizisten neben einem als Elmo verkleideten Menschen
Reuters/Hannah Mckay
Auch ein Kommentar am Wahltag: Ein Wähler verkleidete sich als Elmo, eine der Figuren der US-Fernsehserie „Sesamstraße“
Menschen stehen Schlange vor einem Wahlcontainer
APA/AFP/Glyn Kirk
Anstellen vor einem provisorischen Wahllokal
Eine Frau schaufelt Schnee
Reuters/Russell Cheyne
Die Rollstuhlrampe wurde von Schnee geräumt

Briten taktieren

Taktische Wahlentscheidungen könnten alles verändern, hieß es vonseiten des Meinungsforschungsinstituts zudem. „Falls irgendjemand zu Ihnen kommen sollte und sagen, er wisse, was passieren wird, ziehen Sie eine Augenbraue hoch, lächeln Sie freundlich und wenden Sie sich ab“, sagte BBC-Moderator Andrew Marr. Britische Umfragewerte sind bekanntermaßen aufgrund des Mehrheitswahlrechts kaum aussagekräftig.

Es überrascht somit kaum, dass sich die Torys und Labour bis zuletzt nichts schenkten: Johnson lasse Offenheit vermissen, wenn es um seine Brexit-Pläne gehe, sagte der Chef der britischen Sozialdemokraten bei dem letzten TV-Duell im BBC-Fernsehen. Johnson wiederum warf Corbyn vor, keine klare Haltung zum EU-Austritt einzunehmen und seine Partei nicht im Griff zu haben.

Grant gegen Johnson

Ähnlich scharf, wenn auch mit einer Spur mehr dunklem Humor, verlief der Videowahlkampf der beiden Großparteien. Auf der einen Seite war da etwa ein weit verbreitetes Labour-Video: Darin erklärte ein offensichtlich konservativer Politiker – den Labour als „ideenlos“ brandmarkt –, dass so ziemlich jedes Problem der Bevölkerung auf Migrantinnen und Migranten zurückgeht.

Auf der anderen Seite versuchten sich die Konservativen den Weihnachtsklassiker „Tatsächlich Liebe“ („Love Actually“, Anm.) zu eigen zu machen – statt „Love Actually“ heißt es „Brexit, Actually“. In dem über Twitter verbreiteten Clip spielt Johnson jene Szene nach, in der ein Mann mit Botschaften auf Pappschildern der Frau eines Freundes seine Liebe gesteht.

In Johnsons Version klingelt der Premier an der Tür einer Frau und bittet sie mit Hilfe von Botschaften auf Schildern, seine Konservative Partei zu wählen. Die Kampagne ist zugleich ein Seitenhieb auf Schauspieler und Johnson-Kritiker Hugh Grant. Dieser ließ mit einer Antwort nicht lange auf sich warten. In einem BBC-Interview unterstellte er den Spindoktoren der Torys, dass sie das Schild aus dem Originalfilm „Weil man zu Weihnachten die Wahrheit sagt“ bewusst ausgelassen habe.

ORF-Korrepondent Adrowitzer berichtet aus London

Großbritanniens Premier Boris Johnson wollte mit der Wahl Klarheit ins Brexit-Chaos bringen. Wie groß seine Chancen tatsächlich sind, analysiert ORF-London-Korrespondent Roland Adrowitzer.

„Es ist kalt, es ist dunkel, es ist klamm“

An der mangelnden Beliebtheit beider Parteichefs änderte das jedoch wenig. Die Stimmung der Nation würde aktuell das Wetter widerspiegeln, schrieb der BBC-Journalist Mark Easton in einer Analyse. „Es ist kalt, es ist dunkel, es ist klamm.“ „Viele traditionelle Tory- und Labour-Wähler fühlen sich von ihren Parteien entfremdet“, hieß es im „Guardian“.

Eisskulptur bei einer britischen TV-Debatte über Klimaschutz
APA/AFP/Kirsty O’connor
Bei einer Debatte zum Klimaschutz wurde Johnson durch eine Eisskulptur ersetzt

Johnson, der seiner Schwester zufolge bereits als Kind verlautbarte, einmal „König der Welt“ werden zu wollen, blieb seiner polarisierenden Art im Wahlkampf nichtsdestotrotz treu. So nannte er verschleierte muslimische Frauen „Briefkästen“, Arbeiter und alleinerziehende Mütter bezeichnete er als „nutzlos“. An einer TV-Debatte über Klimaschutz wollte er gar nicht erst teilnehmen und wurde vom Sender Channel4 kurzerhand durch eine Eisskulptur in Form der Erdkugel ersetzt. Indirekt stellte er wenig später gar die Finanzierung der BBC infrage.

Großbritannien wählt

Großbritannien wählt ein neues Parlament. Es geht um die Sitze von 650 Abgeordneten im Unterhaus. Vor allem aber um die Frage, wie es mit dem Brexit weitergehen soll.

Streit um NHS – Johnson kassiert Handy

Für viel Wirbel sorgte kurz vor der Wahl auch, als der Premier einem britischen Journalisten das Handy aus der Hand nahm. Der ITV-Journalist Joe Pike wollte Johnson das Foto eines Vierjährigen mit Sauerstoffmaske zeigen, der in einem Krankenhaus auf dem Boden liegen muss.

In der Auseinandersetzung ging es um Johnsons Pläne für das britische Gesundheitssystem NHS – ein wesentliches Wahlkampfthema. Sowohl Johnson als auch die Oppositionsparteien haben zugesagt, im Falle eines Wahlsiegs wesentlich mehr Geld in den NHS zu pumpen. Vor allem in den Wintermonaten, wenn etwa Erkrankungen wie Grippe hinzukommen, kommt der Gesundheitsdienst nicht mehr gegen den Ansturm von Patienten an.

Corbyn, der als überzeugter Pazifist und vehementer Kritiker des früheren Labour-Premiers Tony Blair gilt, kämpfte seinerseits über Monate mit Antisemitismusvorwürfen. Unklar ist auch, wie gut sein Wahlkampfthema Nummer eins zieht, der Vorwurf an Johnson, er würde den Gesundheitsdienst NHS an die USA verschachern wollen.

Droht ein neuerliches „Hung Parliament“?

Die große Frage ist dennoch: Ist Johnson erfolgreich, oder kommt es einmal mehr zu einem „Hung Parliament“ – also einer weiteren Hängepartie im Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse? In einem „Hung Parliament“ könnte Corbyn, der Wiederverstaatlichungen von Bahn und Infrastruktur fordert, theoretisch eine Minderheitsregierung formen.

Die Schottische Nationalpartei (SNP) wäre bereit, ihn zu unterstützen, wie SNP-Chefin Nicola Sturgeon bereits deutlich machte. Sie forderte jedoch ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum für Schottland. Die Liberaldemokraten, die einen Brexit komplett ablehnen und Labour zuletzt in Umfragen viele Stimmen kosteten, schlossen das aus.

Gleitsmann (ORF) aus Newcastle

ORF-Korrespondentin Verena Gleitsmann berichtet aus England über die bevorstehende Wahl.

„Es könnte nicht enger sein“

„Es könnte nicht enger sein“, räumte Johnson am Mittwoch – dem letzten Tag vor der Parlamentswahl – selbst ein. Der ehemalige Londoner Bürgermeister überraschte in der Früh Wähler in Yorkshire als Milchmann. Den Fragen eines Reporters ging er mit der Flucht in einen begehbaren Kühlschrank aus dem Weg – eine letzte Steilvorlage für seinen größten Herausforderer. „Ich bin nicht hierhergekommen, um Milch zu liefern oder mich in einem Kühlschrank zu verstecken“, sagte Corbyn bei einem Wahlkampfauftritt im Nordosten Englands. „Ich bin mit einer Botschaft der Hoffnung hierhergekommen.“

Nicht zuletzt könnte es auch in Johnsons eigenem Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip interessant werden – er muss sich dort einigen kuriosen Herausforderern stellen. Darunter finden sich unter anderen ein Lord Buckethead (Dt.: Lord Kübelkopf) und ein Count Binface (Dt:. Graf Mistkübelgesicht). Hinter Count Binface steht offenbar der Comedian Jon Harvey. Er war bereits bei der Wahl im Jahr 2017 gegen May in deren Wahlkreis angetreten, damals noch unter dem Namen Lord Buckethead. Davon sah er aber dieses Mal angesichts eines Urheberrechtsstreits ab. Einen anderen Bewerber schien das nicht abgehalten zu haben, den Namen zu nutzen.