Circe Offering the Cup to Odysseus von John William Waterhouse
Gemeinfrei
Circe, Briseis und Co.

Odysseus und die starken Frauen

Die Muse singt, der Dichter spricht? Seit Homer war der Blick auf die griechischen Sagen männlich. So gut wie nichts erfuhr man von den Heldinnen der Geschichten. Jetzt endlich sind, nach ein paar tausend Jahren, die Frauen am Wort.

Drei neue Romane, von denen einer bereits auf Deutsch vorliegt, rücken die Geschichten um den Trojanischen Krieg und die Odyssee, die Herzstücke der klassischen griechischen Mythen, in ein völlig neues Licht. Der einzige „Trick“ hierbei ist ein Wechsel der Perspektive von einer männlichen auf eine weibliche Sichtweise – aber der ist verblüffend wirkungsvoll.

„Silence of the Girls“ der Britin Pat Barker krempelt die Geschichte des Trojanischen Krieges, wie man sie kannte, auf diese Weise komplett um. Ihre Heldin ist Briseis, vor Kurzem noch Königin des mit Troja verbündeten Stadtstaates Lyrnessus. Nach dessen Vernichtung lebt sie als Sklavin im Kriegslager der Griechen vor Troja, einem „Rape Camp“, wie sie es nennt.

Fresko im Archeoologischen Museum Neapel
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Achilles übergibt Briseis an Agamemnon (Fresko aus Pompeji, 1. Jh. n. Chr.)

Der moderne Begriff funktioniert, betrachtet man die Geschichte tatsächlich aus Sicht der handelnden Frauen. Wobei gerade das etwas ist, was diese versklavten Frauen kaum tun: handeln. In ihrer Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt, haben Briseis und ihre Leidensgenossinnen kaum äußerlichen Handlungsspielraum. Sie kann sich fast nur in Gedanken, Erinnerungen und Wünschen ausdrücken – die sind aber umso explosiver.

Wenn Beutefrauen reden

In der „Ilias“ ist die Figur der Briseis nur ein Zankapfel zwischen den Alphamännern Agamemnon und Achilles, die ihre „Ehrenpreise“, also Beutefrauen, wie Gegenstände hin- und herschieben. Briseis muss obendrein ausgerechnet jenem Achilles als Sklavin dienen, der eigenhändig ihre Familie ausrottete.

Der Roman wechselt für eine Zeitlang die Perspektive hin zu Achilles und seinem Freund Patroklos. Der Halbgott und Gewaltmensch Achilles, von Brad Pitt im Hollywood-Film „Troja“ als grüblerisches Sexsymbol der Antike verkörpert, ist bei Barker ein Mann, der das Trauma, als kleines Kind seine Mutter zu verlieren, nie verwunden hat.

Die Rache der Mäuse

Ein Höhepunkt des Romans ist Briseis’ „Rache“ in Form von Gebeten – ihr „Gebet der Mäuse“ beschert, so scheint es, den Griechen die Pest – diese rhythmische Litanei der Schwachen erzeugt beim Lesen Gänsehaut. „The Silence of the Girls“ kommt fast ohne Übernatürliches aus, abgesehen von Achilles’ Mutter Thetis, einer Meeresgöttin; sie könnte aber auch nur eine Sinnestäuschung sein, die Figur bleibt vage.

Buchhinweise

  • Pat Barker: The Silence of the Girls. Penguin Books, 336 Seiten, 9,99 Euro.
  • Madeline Miller: Ich bin Circe. Aus dem Englischen von Frauke Brodd. Eisele, 528 Seiten, 24,70 Euro.
  • Natalie Haynes: A Thousand Ships. Pan MacMillan, 368 Seiten, 14,99 Euro.

Auf Knalleffekte und magische Zutaten verzichtet Barker. Seine Spannung bezieht der Roman aus dem Kontrast zwischen der bekannten Heldengeschichte und der lebensnahen, modernen Schilderung. Die Leserin kann gar nicht anders, als an die versklavten Frauen in IS-Lagern und die „Rape Camps“ des Bosnien-Krieges zu denken – das Vergewaltigungslager der Griechen könnte heute so ähnlich noch existieren.

Vielstimmiger Chor

Thematisch nahe, aber formal ungewöhnlicher ist Natalie Haynes’ „A Thousand Ships“. Im Aufbau erinnert es an die Tradition des griechischen Chors mit vielen Stimmen, die hier abwechselnd zu Wort kommen. So schreibt Königin Penelope Jahr für Jahr Briefe an ihren abwesenden Mann Odysseus. Die Geschichten seiner Irrfahrten kennt sie durch Gesänge von Barden an ihrem Hof, und sie macht sich darauf ihren eigenen Reim.

Die gefangenen Frauen von Troja treten als Gruppe auf. Ihre extremen Verluste beschreibt Haynes mit einem schwer erträglichen Detailreichtum. Besonders gut gelingt die Einfühlung in Kassandra, die alle Katastrophen vorhersehen, sie aber nicht vermitteln kann. Ihre zweischneidige „Gabe“ wird wie eine Behinderung geschildert. Anders als Christa Wolfs Kassandra in der gleichnamigen Erzählung von 1983 kann die Seherin ihre Visionen kaum noch in Worte fassen – eine furchtbare Allegorie von Machtlosigkeit.

Strippen für einen Apfel

Andere Frauen tauchen nur in einem einzigen Kapitel auf: Es sind Randfiguren der verschiedenen Sagen, von denen man bei Homer und Co. so gut wie nichts erfährt. Etwas Leichtigkeit und Witz sind der Leserin und dem Leser von „A Thousand Ships“ in den Passagen über Göttinnen und Götter vergönnt: Sie werden mit allen ihre Schwächen, allen voran Eitelkeit und Grausamkeit, durch den Kakao gezogen.

Bücher
ORF.at/Viviane Koth
Drei neue Romane rücken die Geschichten um den Trojanischen Krieg und die Odyssee in ein neues Licht

So in der Darstellung des „Urteils des Paris“, der zu der Entscheidung gezwungen wird, welche Göttin einen goldenen Apfel mit der Inschrift „Der Schönsten“ erhalten soll. Für diese Ehrung würden Athene, Hera und Aphrodite alles tun – sie legen sogar einen Striptease für den verdatterten Paris hin. Der Ausgang des Wettbewerbs führt bekanntermaßen zum Trojanischen Krieg.

Die Muse ist genervt

Zwischendurch meldet sich die zuständige Muse für epische Dichtung, Kalliope, zu Wort. Von den Forderungen des Dichters (gemeint ist Homer) ist sie genervt: „Wann haben die Poeten vergessen, dass sie den Musen dienen und nicht umgekehrt?“ Weil „A Thousand Ships“ so viele Heldinnen hat, bleiben die einzelnen Schicksale, anders als in Barkers fokussierter Darstellung der Briseis in „The Silence of the Girls“, notgedrungen bruchstückhaft. Zusammen ergeben sie aber ein rundes Bild der Rolle von Frauen im Krieg.

Männer in Schweineform

Madeline Millers „Ich bin Circe“ ist ein bisschen wie ein Who is who der Mythologie. Die Story einer Außenseiterin kann ebenso als Abenteuergeschichte mit magischem Hintergrund wie als feministische Neudeutung gelesen werden. Das Besondere an Circe ist, dass sie als zaubernde Göttin nicht machtlos ist: Sie kann sich wehren.

Circe Offering the Cup to Odysseus von John William Waterhouse
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Das Phantasma der „bösen, sexbesessenen Hexe“ („Circe bietet Odysseus den Becher an“, Gemälde von John William Waterhouse, 1891)

Bei Homer ist sie eine Hexe, die Männer en gros in Schweine verwandelt. Millers Roman schlägt einen sehr plausiblen Grund für diese Maßnahme vor: Schiffbrüchige Männer, die auf einer Insel einer attraktiven, alleinstehenden Frau begegnen, benehmen sich nicht immer gut.

Die Hexe, die bezirzt

Die sexuelle Selbstbestimmtheit Circes und ihre Macht über Männerkörper haben lange Zeit Fantasien wie Ängste beflügelt. Kulturell wurde sie zum Vorbild für viele Erscheinungsformen des Phantasmas „böse, sexbesessene Hexe“. Sie stand Patin für den Ausdruck „bezirzen“, und es ist wohl eher kein Zufall, dass eine schöne, böse Königin im TV-Serienhit „Game of Thrones“ Cersei heißt.

Miller zeigt Circe als selbstbestimmte Frau, die um ihren Platz in der Welt der Götter ebenso wie der Menschen kämpfen muss – dafür eckt sie überall an, wird bestraft, ausgegrenzt und auf eine einsame Insel verbannt. Die Schilderung ihrer dekadenten, dysfunktionalen Götterfamilie und das Panoptikum an Nymphen, Halbgöttern und anderen magischen Wesen macht großen Spaß.

Wird Circe bei Homer von Odysseus „besiegt“ und muss klein beigeben, ist es bei Miller ihr Entgegenkommen, seine Männer wieder aus der Schweineform zu erlösen. Die Liebesgeschichte, die darauf folgt, beginnt als pragmatischer Handel zwischen den beiden: Sex gegen Vertrauen. Dass der Listenreiche es ohne ihre Tipps nie nach Hause geschafft hätte, steht schon bei Homer.