Wähler auf dem Weg zum Wahllokal
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Parlamentswahl

Britische Exit-Polls sehen Johnson klar voran

Erste Exit-Polls nach den Parlamentswahlen in Großbritannien am Donnerstag sehen die Konservative Partei des bisherigen Premiers Boris Johnson als klaren Sieger. Seine Torys sollen 368 Sitze im Unterhaus erhalten, die oppositionelle Labour-Partei 191 Sitze. Das geht aus den von den britischen Sendern BBC, ITV und Sky News gemeinsam beauftragten Exit-Polls hervor. Ein endgültiges Ergebnis wird erst im Laufe des Freitags erwartet.

Für Johnson wäre das ein deutlicher Zugewinn, er hätte damit eine komfortable Mehrheit im britischen Unterhaus, das insgesamt 650 Sitze hat. Die Labour-Partei von Jeremy Corbyn verlor deutlich – nach momentanem Stand 71 Sitze im Vergleich zur letzten Wahl, es wäre das schlechteste Ergebnis seit 1935. Die Liberaldemokraten würden demzufolge 13 Sitze erhalten, einen mehr als bei der Wahl im Jahr 2017. Die Brexit Party von Nigel Farage würde nach den Exit-Polls leer ausgehen.

Corbyn sprach in der Nacht in seinem Wahlkreis im Londoner Stadtteil Islington von einer „sehr enttäuschenden Nacht“. Der Brexit habe andere politische Debatten ausgelöscht und habe so zum Labour-Ergebnis beigetragen. Corbyn kündigte an, dass er die Partei nicht in eine weitere Wahl führen werde. Er werde sich aber an der Phase der „Reflexion“ und Diskussion beteiligen.

Johnson meldete sich nur wenig später in seinem Wahlkreis Uxbridge zu Wort. Er wolle noch nichts verschreien, würde das Ergebnis aber als Auftrag verstehen, den Brexit über die Bühne zu bringen und das Land zu vereinen.

Leichte Verschiebungen bei Mandaten erwartet

Im Laufe der Nacht ließen die britischen Nachrichtensender die Ergebnisse in ihre Prognosen einfließen. Die Unterschiede zu den Exit-Polls waren jedoch gering: Die BBC ging von einem weniger starken Zuwachs der Torys (365 Sitze) und im Gegenzug weniger starken Verlusten für Labour aus (196 Sitze). Auch ITV rechnete mit kleinen Verschiebungen im Vergleich zu den Exit-Polls – so oder so erwartete man aber eine deutliche Mehrheit für die Konservativen.

In der Vergangenheit waren die Exit-Polls durchaus genau, schreibt die BBC. 2005 und 2010 wurden die Mehrheitsverhältnisse genau getroffen, 2017 lag man vier Sitze daneben. Nur 2015 lagen die Exit-Polls mit 22 Sitzen Unterschied weit daneben – doch selbst damit hätte Johnson nach den ersten Zahlen immer noch eine Mehrheit im Unterhaus.

Erste Ergebnisse bestätigten Exit-Polls

Um 23.30 Uhr (MEZ) wurden die ersten Wahlkreise ausgezählt. Den Anfang machte Newcastle Central – dort konnte Labour seinen Sitz behalten. Auch in Houghton und Sunderland South behielt Labour seinen Sitz. Zu einer Überraschung kam es jedoch nur wenig später: Blyth Valley, ein Wahlkreis, der seit 1950 in der Hand von Labour war, wanderte zu den Torys. Laut dem Politologen John Curtice entspreche das den Vorhersagen der Exit-Polls, schreibt die BBC.

Auch in Workington, einer Labour-Hochburg, die mit nur einer Ausnahme seit 1918 Labour-Abgeordnete nach Westminster entsandte, wanderte zu Johnsons Torys. Workington kam im Wahlkampf eine besondere Rolle zu: Der „Workington Man“ wurde zu einem der Ziele der Konservativen Partei ernannt – man wollte Männer über 45 aus dem Norden Englands erreichen, die für den Brexit gestimmt haben, was den Torys gelungen sein dürfte. Das erste Mandat, das von den Konservativen zu Labour wanderte, wurde unterdessen in Putney verbucht – ein Wahlkreis im Süden Londons.

Durch das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien ziehen nur die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise in das Unterhaus ein, egal wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das machte es im Vorfeld sehr schwer, aus landesweiten Umfrageergebnissen auf die mögliche Sitzverteilung im Parlament zu schließen.

Torys reagierten zurückhaltend

Johnson bedankte sich bereits in einer ersten Reaktion nach Veröffentlichung der Exit-Polls auf dem Kurznachrichtendienst Twitter bei seinen „Wählerinnen und Wählern, allen freiwilligen Helfern und allen Kandidaten“. Großbritannien sei „die großartigste Demokratie der Welt“. James Cleverly, Vorsitzender der Torys, warnte davor, zu viel aus den Ergebnissen herauszulesen, schreibt der „Guardian“. Aber: „Mathematik ist Mathematik“, zitiert die Zeitung Cleverly – es wäre eine große Mehrheit für die Konservative Partei, wenn die Zahlen stimmen.

Erste Analyse der Exit-Polls

Sollten sich die ersten Prognose bestätigen, haben die Konservativen bei der Wahl in Großbritannien einen deutlichen Sieg errungen.

Der Labour-Abgeordnete Barry Gardiner, der im Schattenkabinett von Corbyn sitzt, sagte, die Exit-Polls seien ein „verheerender Schlag“ und eine „äußerst deprimierende Vorhersage“. Gegenüber Sky News wich er einer Frage über die Zukunft von Corbyn bei Labour aus. Schattenfinanzminister John McDonnell sagte der BBC, dass die Exit-Polls „extrem enttäuschend“ für Labour seien – sofern sie stimmen. „Ich habe gedacht, es wird knapper. Ich glaube, dass die meisten Menschen gedacht haben, dass die Umfragen knapper werden“, so McDonnell. Entscheidungen über die Parteispitze werde man treffen, wenn die Ergebnisse vorliegen, sagte der Labour-Politiker.

Der ehemalige britische Parlamentspräsident John Bercow sagte unterdessen Sky News, dass das ein „dramatisches Ergebnis“ für Johnson sei. Es sei „weit besser, als die meisten Konservativen sich das erträumt haben“, so Bercow. Johnson wäre wohl extrem begeistert, wenn die Zahlen „nur annähernd genau“ seien.

Ursachensuche bei Labour

Nach der verheerenden Prognose bei den Exit-Polls begann die Ursachensuche bei Labour schon in der Nacht auf Freitag. Gareth Snell, der Labour-Kandidat in Stoke-on-Trent Central, sagte, dass Corbyn zurücktreten solle. Laut Snell habe Labour einen Fehler gemacht, indem Theresa Mays Brexit-Deal nicht unterstützt wurde. Man hätte zu sehr auf einzelne Labour-Stimmen aus dem „Remain“-Lager gehört – „wir hätten entweder die Tories aufhalten oder Brexit aufhalten können“, so Snell.

McDonnell sagte unterdessen, es sei „die Brexit-Wahl“ gewesen. Labour sei es nicht gelungen, Menschen mit anderen Themen – wie etwa das Gesundheitssystem NHS – zu überzeugen. Die Abgeordnete Caroline Flint schrieb auf Twitter, dass sowohl Brexit als auch Corbyn schuld seien. „Es tut mir leid, dass wir Ihnen keine Labour Party anbieten konnten, der Sie vertrauen können“, so Flint in Richtung der Wählerinnen und Wähler.

Johnson auf Brexit-Kurs?

Für den bisherigen Premier Johnson dürfte unterdessen der Weg für einen Brexit nach seinem Fahrplan frei sein. Bisher war er im britischen Parlament auf die Unterstützung der nordirischen DUP angewiesen – die sich vor allem in der Irland-Frage als Hürde erwies. Und auch aus der eigenen Partei gab es Widerstand: Die Mitglieder der European Research Group (ERG) um Jacob Rees-Mogg gelten als Brexit-Hardliner und konnten Johnson bisher einen Strich durch die Rechnung machen – mit einer deutlichen Mehrheit wäre Johnson damit wohl auch innerparteilich gestärkt.

Schottland: Signal für Unabhängigkeitsreferendum?

Sollten sich die Vorhersagen bewahrheiten, darf sich auch die Schottische Nationalpartei (SNP) über Zugewinne freuen. Im Vergleich zur letzten Wahl hätte sie 20 Sitze mehr – für den ehemaligen SNP-Politiker Angus Robertson ein Signal für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum in Schottland, so Robertson gegenüber BBC Schottland.

In Nordirland – das eine zentrale beim Brexit spielt – zeichnete sich im Laufe der Nacht ein Rückschlag für die DUP, die bisher Johnson unterstützte, ab. In einem Wahlkreis der nordirischen Hauptstadt Belfast verlor etwa DUP-Chef Nigel Dodds sein Mandat an Sinn Fein.

Frankreich begrüßt möglichen Wahlausgang

Die französische Regierung zeigte sich über die Exit-Polls erfreut. Es stehe ihr zwar nicht zu, „erleichtert oder beunruhigt zu sein“, sagte die französische Europastaatsministerin Amelie de Montchalin beim EU-Gipfel in Brüssel. Aber eine stabile Mehrheit sei das, „was im Vereinigten Königreich seit einigen Jahren gefehlt hat“.

Auch europäische Diplomaten begrüßten die Deutlichkeit des offenbaren Wahlausgangs in Großbritannien. „Klarheit ist gut“, so ein EU-Vertreter. Ein französischer Diplomat erwartet einen raschen Ausstieg Großbritanniens aus der EU. „Falls das Ergebnis bestätigt wird, nehmen wir an, dass (Johnson) das tun wird, was er gesagt hat – Brexit Ende Jänner“, so der Diplomat. Die Beziehung zu Großbritannien sollte so eng wie möglich bleiben.

Berichte über ungewöhnlich lange Schlangen

In London berichteten Wähler von ungewöhnlich langen Schlangen vor mehreren Wahllokalen. In Bermondsey and Old Southwark sagte ein 27-Jähriger: „Für viele ist es eben die Wahl unseres Lebens.“ Andere waren sehr besorgt: „Ich finde, man kann die Wahl zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn mit der Abstimmung damals in den USA über Donald Trump und Hillary Clinton vergleichen: Beide sind Teufel“, sagte ein Brite, der in der Nähe des Londoner Parlaments arbeitet.

Parteispitzen wählten schon in der Früh

Die Spitzenpolitiker wählten schon in der Früh. Labour-Chef Corbyn gab seine Stimme im Londoner Stadtteil Islington ab. Johnson kam mit Hund Dilyn zur Stimmabgabe. Den Hund bemühten die Konservativen auch für einen letzten Wahlaufruf: „Hund Dilyn wünscht, dass Sie die Konservativen wählen“, twitterte die Partei am Wahltag. Das Ergebnis stehe „auf Messers Schneide“, sagte Johnson.

Fotostrecke mit 9 Bildern

Premierminister Johnson mit Hund vor Wahllokal
AP/Frank Augstein
Premier Boris Johnson hatte bereits früh die Stimme abgegeben
Jeremy Corbyn bei der Stimmabgabe
APA/AFP/Tolga Akmen
Labour-Chef Jeremy Corbyn versuchte am Donnerstag, seine Wählerschaft zu mobilisieren
Wahllokal in einer Wäscherei
AP/Matt Dunham
Am Wahltag wurde zunächst keine Schmutzwäsche mehr gewaschen
Nicola Sturgeon gibt ihr Stimme ab
AP/Scott Heppell
Die schottische Regierungschefin und Labour-Chefin Nicola Sturgeon bei der Stimmabgabe
Jo Swinson kommt aus dem Wahllokal
Reuters/Gonzalo Fuentes
Die Chefin der proeuropäischen Liberaldemokraten, Jo Swinson, könnte im Fall eines „Hung Parliament“ zum Zünglein an der Waage werden
DUP-Chefin Arlene Foster vor der Stimmabgabe
AP/PA/Brian Lawless
DUP-Chefin Arlene Foster, die derzeit in einer Koalition mit Johnson ist
Britsiche Polizisten neben einem als Elmo verkleideten Menschen
Reuters/Hannah Mckay
Auch ein Kommentar am Wahltag: Ein Wähler verkleidete sich als Elmo, eine der Figuren der US-Fernsehserie „Sesamstraße“
Menschen stehen Schlange vor einem Wahlcontainer
APA/AFP/Glyn Kirk
Anstellen vor einem provisorischen Wahllokal
Eine Frau schaufelt Schnee
Reuters/Russell Cheyne
Die Rollstuhlrampe wurde von Schnee geräumt

Johnsons Stimmabgabe war ungewöhnlich: Eigentlich wählen Premierminister in ihren eigenen Wahlkreisen, nicht zuletzt, um sich selbst eine Stimme geben zu können. Doch Johnson wählte in der Nähe des Regierungssitzes in der Londoner Downing Street – sein Wahlkreis Uxbridge and South Ruislip liegt jedoch in einem Vorort im Westen Londons. Dort wollen politische Gegner ihm seinen Unterhaussitz streitig machen. Sie waren in den vergangenen Tagen unterwegs, um möglichst viele Wähler für den Labour-Kandidaten zu mobilisieren. Johnson hatte seinen Sitz 2017 mit nur rund 5.000 Stimmen Vorsprung gewonnen.