Der britische Premier Boris Johnson vor der Downing Street in London
AP/Matt Dunham
Farage und Corbyn

Johnsons wichtigste Wahlhelfer

Als „Erdrutschsieg“ wird der Wahltriumph von den britischen Konservativen unter Boris Johnson bezeichnet. 48 Mandate gewannen sie dazu, die Labour-Opposition von Jeremy Corbyn verlor fast 60 Sitze. Dabei gewannen die Torys nur 1,2 Prozentpunkte der Stimmen hinzu – überhaupt offenbart das Mehrheitswahlrecht seine Tücken. Johnsons größte Wahlhelfer waren wohl nicht die Torys, sondern seine Gegner: Corbyn und Nigel Farage.

Wahlentscheidend war vor allem ein Thema – und ein politischer Schachzug: der Brexit und die Entscheidung der Brexit-Partei von Farage, in 317 Wahlkreisen auf eine Kandidatur zu verzichten und den Konservativen den Vortritt zu lassen. Am 11. November habe sich die Wahl mit dem Entschluss von Farage entschieden, schreibt der „Guardian“: Der Brexit-Hardliner habe die Wahl für Johnson gewonnen.

Nun hat Johnson freie Bahn: Mit dem EU-Austritt ist die Brexit Party wohl Geschichte, und in seiner eigenen Partei hatten die meisten prominenten Kritiker seines Kurses in den vergangenen Monaten die Segel gestrichen und ihre Politkarriere beendet.

Nicht jede Stimme gleich viel wert

Der Sieg der Torys mit der simplen Botschaft „Get Brexit done“ ist wohl auch dem Mehrheitswahlrecht zu verdanken, das nach dem Prinzip „The winner takes it all“ den Zweitplatzierten – auch wenn er nur eine Stimme weniger hat – leer ausgehen lässt. Sie erhielten die in Umfragen prognostizierten 43 Prozent. Die knapp 14 Millionen Stimmen bedeuten eben 365 Mandate. Die Liberaldemokraten erreichen mit rund 3,9 Millionen Stimmen (rund 11,5 Prozent) nur elf Mandate. Ausgerechnet jenes von Parteichefin Jo Swinson ging verloren, obwohl die LibDems mit einem Plus von 4,2 Prozentpunkten die größten prozentuellen Zugewinne erzielten. Swinson muss nun den Platz an der Parteispitze räumen.

Grafik zur Parlamentswahl in Großbritannien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BBC

Die Grünen eroberten mit 860.000 Stimmen (2,7 Prozent) genau ein Mandat. Umgekehrt kann sich die Schottische Nationalpartei (SNP) mit 1,2 Millionen Stimmen gleich über 48 Mandate freuen. In absoluten Zahlen zeigt sich auch, dass die Parteien, die klar für den Brexit sind, also Torys, Brexit Party und diverse Kleinparteien, eigentlich keine Mehrheit erreicht haben. Dass die Brexit-Gegner die Mehrheit haben, lässt sich so nicht sagen, da die Position der Labour-Wähler nicht eindeutig eingeordnet werden kann.

Viele Gründe für das Scheitern Corbyns

Genau das ist auch einer der Gründe, wieso Labour 7,8 Prozentpunkte verloren hat. Mit dem Eiertanz zum Brexit schreckte man sowohl Befürworter als auch Gegner des EU-Austritts ab. Die britische Presse machte schnell weitere Gründe für das Scheitern von Labour aus, offensichtlich ist auch der zweite: Corbyn als Spitzenkandidat war zu wenig Integrationsfigur. Seine altlinken Positionen schreckten einen Teil der Wählerschaft ab.

Das Zaudern bei der Verurteilung antisemitischer Äußerungen kostete ihn vor allem unter urbanen Wählern Stimmen. Schon nach Veröffentlichung der ersten Exit-Polls in der Nacht meldeten sich erste parteiinterne Gegner mit scharfer Kritik und Rücktrittsaufforderungen zu Wort.

Corbyn kündigt nach Wahlniederlage Rücktritt an

In vielen Teilen Großbritanniens haben die Torys der oppositionellen Labour Party Sitze abnehmen können. Labour-Parteichef Corbyn stellte seinen Rücktritt in Aussicht.

Der „Guardian“ führt noch weitere Punkte an: So sei das Wahlprogramm viel zu kompliziert und umfangreich gewesen. Lokalpolitiker seien gar nicht so weit gekommen, potenziellen Wählerinnen und Wählern wichtige Einzelheiten nahezubringen. Die Torys hätten dagegen mit dem einfachen Slogan, den Brexit durchzuziehen, gepunktet. Auch in der Wahlstrategie habe es Fehler gegeben. Labour konzentrierte sich auf Hochburgen und besonders umkämpfte Wahlkreise, ließ aber jene unberücksichtigt, in denen es 2017 knappe Erfolge gegebene hatte. Und genau diese seien verloren gegangen.

Der Fall der „Roten Mauer“

Damit sei auch die „Rote Mauer“ von den Torys eingerissen worden, also das Ende der jahrzehntelange Vorherrschaft der Sozialdemokraten in den nördlichen Industrieregionen. Obwohl das Labour-Programm gerade für diese Wählerschichten maßgeschneidert war, habe es Corbyn als Mittelschicht-Londoner nicht geschafft, die Bevölkerung dort anzusprechen, heißt es übereinstimmend in britischen Medien.

Wahlergebnisse aus Mittel- und Nordengland

Peter Teubenbacher (ORF) präsentiert Wahlergebnisse in Mittel- und Nordengland.

Der Fall der „Roten Mauer“ wird als wahlentscheidend gesehen. Allerdings: Ein genauer Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass die Erzählung, dass ehemals Labour wählende Brexit-Befürworter in Scharen zu den Konservativen übergelaufen seien, nicht für alle Wahlkreise stimmt. Wie der Independent berichtet, habe Labour in vielen wichtigen Wahlkreisen nicht mehr Wähler verloren als etwa bei den Wahlen 2005, 2010 und 2015.

Grabenkämpfe um Corbyns Nachfolge erwartet

Eingetreten sei ein anderer Effekt: Bei der Wahl 2017 hätten in diesen Wahlkreisen sowohl Torys als auch Labour stark zugelegt, sodass Labour die Nase vorn behielt. Am Donnerstag gewannen die Konservativen eigentlich nur marginal dazu, die Sozialdemokraten verloren aber einen Großteil ihrer Gewinne von 2017.

Dass Labour bei den unter 40-Jährigen klar die stärkste Kraft wurde, wird die Partei kaum trösten. Schon jetzt ist das Rennen um die Corbyn-Nachfolge angelaufen – und allzu schnell werden sich die Lager pro und kontra Brexit, zwischen linken Positionen und einem Blair-Kurs der Mitte wohl nicht einigen können – mehr dazu in fm4.ORF.at.

Starkes Signal Schottlands

Ein starkes Signal haben die schottischen Wählerinnen und Wähler nach London geschickt. Die proeuropäische SNP eroberte 48 Mandate – und Parteichefin Nicola Sturgeon meldet schon den Anspruch auf ein zweites Unabhängigkeitsreferendum an. Die zukünftige Tory-Regierung von Johnson will dem mit Sicherheit nicht nachgeben, neue Konflikte sind programmiert.

Wahlergebnisse aus Schottland

Peter Teubenbacher (ORF) über das Wahlergebnis in Schottland.

Überhaupt scheint durch die Wahl die Spaltung des Landes alles andere als überwunden, auch wenn der Brexit nun beschlossene Sache ist. Und britische Medien zeichnen ein teils dramatisches Bild: Von einer „Trumpifizierung der britischen Politik“ schreibt der Independent. In der konservativen „Times“ heißt es, Corbyn sei nicht in der Lage gewesen, „sich der Rücksichtslosigkeit von Johnson und (seinem Berater Dominic, Anm.) Cummings zu widersetzen“.

„Unbeliebtheitswettbewerb“ statt Wahl

Noch schärfer ist der „Guardian“, der sich am Vorabend der Wahl für Labour als geringeres Übel deklariert hatte: „(…) Es sind die Torys, die die schlimmsten Übeltäter waren und jeden Trick aus dem Steve-Bannon-/Donald-Trump-Drehbuch übernommen haben. Warum eine kleine Lüge erzählen, wenn du mit einer großen noch besser dran bist? Und wenn du beim Lügen erwischt wirst, entschuldige dich nie. Setz einfach noch einen drauf. Erzähl eine Lüge oft genug, dann werden einige Leute es glauben“, schreibt der „Guardian“.

Und weiter: „Es war weniger eine Wahl als vielmehr ein Unbeliebtheitswettbewerb. Boris und Corbyn waren im ganzen Land sehr unbeliebt, und ihnen wurde misstraut. Worum es wirklich ging, war, welcher Führer am wenigsten gehasst wurde. Ein Rennen, das Boris mühelos gewann.“ Die Johnson freundliche gesinnte „Daily Mail“ hingegen vergleicht den Premier schon jetzt mit Winston Churchill und Margaret Thatcher. Mit seinem außergewöhnlichen Triumph habe er jedenfalls das politische Leben des Landes verändert.