Der britische Premierminister Boris Johnson
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
„Lasst die Heilung beginnen“

Johnson ruft Briten zu Versöhnung auf

Am Freitagnachmittag hat der britische Premier Boris Johnson die Britinnen und Briten zur Überwindung der Spaltung infolge der Brexit-Debatte aufgerufen. „Ich fordere jeden auf, damit abzuschließen und die Heilung beginnen zu lassen“, so Johnson vor dem Regierungssitz in der Londoner Downing Street. Kurz zuvor wurde auch das Endergebnis der Parlamentswahl veröffentlicht.

Johnson sagte, er „weiß, dass die Priorität der Britinnen und Briten tatsächlich das Gesundheitssystem NHS“ sei. Nun solle man sich eine Pause genehmigen – und eine „dauerhafte Pause“ davon, über den Brexit zu debattieren. Johnson richtete sich auch an alle, die ihn nicht gewählt hatten und etwa für einen Verbleib in der EU sind: Man werde deren „gute und herzliche Gefühle“ zu anderen EU-Staaten „nie ignorieren“. Diesen Gefühlen „neuen Ausdruck“ zu verleihen und die Partnerschaft mit den europäischen Staaten zu erneuern sei eines der „großen Projekte“ für kommendes Jahr.

Schon am Vormittag verurteilte Johnson die mehr als dreijährige Hängepartie im Brexit-Streit. „Ich werde diesen ganzen Unsinn beenden, und wir werden den Brexit fristgerecht zum 31. Jänner erledigen, ohne Wenn und Aber.“ Mit dem klaren Sieg sei ein zweites Referendum über den Austritt aus der EU nun eindeutig vom Tisch. „Wir haben es geschafft.“ Er werde das Land einen, versprach Johnson. Kurze Zeit später holte er sich formell die Erlaubnis zur Bildung einer neuen Regierung von Königin Elizabeth II.

Endergebnis mit großem Vorsprung für Torys

Johnsons Torys hatten bei der Parlamentswahl am Donnerstag die absolute Mehrheit erobert und ihr bestes Wahlergebnis seit 1987 erzielt. Am Nachmittag wurde das Endergebnis veröffentlicht – dieses verzögerte sich wegen eines Unwetters auf den Scilly-Inseln. Nach Auszählung aller 650 Wahlkreise sicherten sich die Torys 365 Sitze.

Der britische Premierminister Boris Johnson vor Downing Street Nr. 10
Reuters/Toby Melville
Johnson sprach neben dem Christbaum des Regierungssitzes in der Downing Street und rief zur Versöhnung auf

Das sind knapp 50 Mandate mehr als bei der Wahl 2017 – und weil sich bis zur jetzigen Wahl zahlreiche Abgeordnete abspalteten, sogar 67 Mandate mehr als zuletzt. Bei der Wahl 2017 hatten die Konservativen ihre knappe absolute Mehrheit eingebüßt und waren danach auf die Unterstützung der nordirischen DUP angewiesen. Sein neues Kabinett soll laut „Guardian“ bis Dienstag stehen.

Unterhausabstimmung vor Weihnachten erwartet

Die künftige starke Mehrheit der Torys ermöglicht es Johnson, sein mit der EU ausgehandeltes Austrittsabkommen zügig vom Unterhaus verabschieden zu lassen. Johnson will über das Brexit-Abkommen noch vor Weihnachten abstimmen lassen. Britische Medien erwarten eine Abstimmung Ende kommender Woche. Johnson kann Großbritannien damit bis zum Ablauf der geltenden Frist am 31. Jänner aus der Europäischen Union herausführen.

Grafik zur Parlamentswahl in Großbritannien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BBC

Johnson hatte sich zuvor in seinem Wahlkreis Uxbridge zu Wort gemeldet. Er wertete den sich abzeichnenden Erdrutschsieg der Torys als „historisch“ und „starkes Mandat für den Brexit“. Die Regierung habe nun die Gelegenheit, „den demokratischen Willen des britischen Volkes zu respektieren“, sagte er bei der Verkündung des Ergebnisses.

Andreas Mitschitz über den Wahlerfolg von Johnson

Außenpolitikjournalist Andreas Mitschitz erklärt, welche Faktoren für den Erdrutschsieg von Premier Boris Johnson ausschlaggebend waren.

EU sieht sich „bereit“ für nächste Brexit-Phase

Die 27 EU-Staaten ohne Großbritannien beschlossen unterdessen offenbar eine Verhandlungsposition zu den Brexit-Gesprächen. Man habe sich darauf geeinigt, dass Gespräche über einen Handelsvertrag mit Großbritannien nach der Ratifizierung und der Umsetzung des Austrittsabkommens beginnen sollen, sagten EU-Diplomaten.

Die EU habe ihre Prioritäten für die Gespräche über die künftigen Beziehungen bereits festgelegt, so der neue EU-Ratschef Charles Michel zuvor. Er hoffe auf „loyale, gute Verhandlungen“ mit London. Michel äußerte die Hoffnung, dass es nun in Großbritannien „eine frühzeitige Ratifizierung“ des mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommens durch das britische Unterhaus geben werde. Nach dem für den 31. Jänner geplanten Brexit könnten dann die „Verhandlungen über die nächste Phase“ beginnen – „ruhig, aber mit großer Entschlossenheit“. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wies auf die nächste Phase hin: „Es geht um gleiche Spielregeln, soziale Rechte, staatliche Beihilfen, Umweltschutz und andere Bereiche“, so von der Leyen.

EU-Ratspräsident Charles Michel
AP/Francisco Seco
EU-Ratschef Michel hofft auf „loyale, gute Verhandlungen“ mit London

Tatsächlich ist die Zeit knapp. Nach dem EU-Austritt beginnt eine Übergangsphase bis Ende 2020, in der Großbritannien zwar kein EU-Mitglied mehr ist, aber noch im Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt. Diese Phase wollen beide Seiten nutzen, um ein Freihandelsabkommen auszuhandeln. In so kurzer Zeit wurde jedoch noch nie eine solche Vereinbarung mit der EU geschlossen. Eine Verlängerungsoption um bis zu zwei Jahre, die noch bis Juli 2020 möglich ist, hat der Premier ausgeschlossen. Sollte kein Anschlussabkommen zustande kommen, droht Ende kommenden Jahres wieder ein „No Deal“-Szenario.

BBC-Wahlseite

Alle Ergebnisse im Detail finden sich auf der BBC-Ergebnisseite.

In vorbereiteten Schlussfolgerungen will der EU-Gipfel am Freitag seinen Willen für einen „geordneten Austritt“ Großbritanniens bekräftigen. Die EU will die künftigen Beziehungen zu London „so eng wie möglich“ gestalten.

Corbyn will Labour in keine weitere Wahl führen

Corbyn sprach in der Nacht in seinem Wahlkreis im Londoner Stadtteil Islington von einer „sehr enttäuschenden Nacht“. Der Brexit habe andere politische Debatten ausgelöscht und habe so zum Labour-Ergebnis beigetragen. Er werde sich aber an der Phase der „Reflexion“ und Diskussion beteiligen. Am Freitag präzisierte Corbyn in einem Interview, dass er sich wohl „Anfang nächsten Jahres“ zurückziehen werde. Die symbolisch bedeutende 200er-Marke überschritt seine Partei laut Zwischenergebnis in der Früh nur knapp – ein Verlust von Dutzenden Mandaten gegenüber der Wahl 2017 und das schlechteste Ergebnis seit 1935.

Verena Gleitsmann (ORF) analysiert Corbyns Niederlage

„Dieser Freitag der 13. ist tatsächlich zum wahren Unglückstag für Labour geworden“, sagt ORF-Journalistin Verena Gleitsmann über Jeremy Corbyns Niederlage.

Die ersten Ergebnisse der Wahlnacht hatten ein „Blutbad“ in bisherigen Labour-Hochburgen in Nordengland gezeigt. Die Konservativen konnten dabei mehrere Sitze gewinnen, die bisher immer von Labour besetzt worden waren. Johnson hatte dort erfolgreich mit seinem Versprechen, „den Brexit durchzuziehen“, um europakritische Labour-Wähler geworben.

Zugleich gelang es der Oppositionspartei nicht, wesentliche Gewinne in europafreundlichen Wahlkreisen zu verbuchen. Anders als erhofft kam es dort nicht zu taktischen Stimmabgaben, weswegen mehrere prominente Tory-Abgeordnete ihre Mandate retten konnten.

Jeremy Corbyn
APA/AFP/Isabel Infantes
Corbyn will seine Partei in keine weitere Wahl führen

Chefin der Liberaldemokraten verliert Mandat

Ein Wahldebakel setzte es auch für die proeuropäischen Liberaldemokraten, die den EU-Austrittsantrag rückgängig machen wollten. Im Vorfeld wurde erwartet, dass die Partei im Hinblick auf die klare Brexit-Positionierung zulegt – gegenüber 2017 verlor man aber letztlich ein Mandat. Zuletzt hatte die Partei sogar 21 Sitze, nachdem sich Mandatare anderer Parteien den Liberaldemokraten angeschlossen hatten. Nun verlor aber sogar ihre Chefin Jo Swinson ihren Sitz im schottischen Dunbartonshire East an die Schottische Nationalpartei (SNP).

Die Liberaldemokraten stünden für Offenheit und Hoffnung, teilte Swinson in einer Erklärung mit: „Das ist eindeutig ein Rückschlag für unsere Werte.“ Die Partei werde in den kommenden Wochen einen neuen Parteichef bzw. eine neue Parteichefin wählen, vermeldete die Führung der Liberaldemokraten in einer Aussendung.

Jo Swinson
AP/PA/Jane Barlow
Die Chefin der Liberalen, Jo Swinson, verlor ihren Sitz im Unterhaus

Unabhängigkeitsreferendum in Schottland wieder Thema

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon sagte gegen Mittag, es sei jetzt die Zeit für das schottische Volk gekommen, über seine Zukunft zu entscheiden. Das schottische Parlament werde kommende Woche Details dazu vorlegen, wie ein neues Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg gebracht werden könne. Die SNP erzielte 48 Mandate, 13 mehr als bei der letzten Wahl.

Johnson lehnt eine neuerliche Abstimmung über eine Eigenständigkeit Schottlands ab. „Es geht nicht darum, Boris Johnson oder einen anderen Politiker in Westminster um Erlaubnis zu bitten“, so Sturgeon. Es sei „das Recht der Schotten – und Sie, als Anführer einer Partei, die in Schottland besiegt wurde, haben kein Recht, sich in den Weg zu stellen“, so die schottische Regierungschefin in Johnsons Richtung.

Denkzettel für DUP

Einen Denkzettel für ihren Brexit-Kurs erhielten auch die nordirischen Unionisten, deren Vizechef Nigel Dodds abgewählt wurde. Erstmals seit der Teilung der Insel im Jahr 1921 habe Nordirland damit mehr irisch-nationalistische Abgeordnete als Unionisten, meldete die BBC. Die Grünen behielten ihren Sitz, die Brexit Party von EU-Gegner Nigel Farage ging leer aus.

Der Politikwissenschaftler John Curtice wies jedoch darauf hin, dass 52 Prozent der Stimmen an proeuropäische Parteien gingen, nur 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für EU-kritische bzw. "Leave“-Parteien.

Trump: „Riesiges Handelsabkommen“

Zahlreiche Regierungsspitzen gratulierten Johnson bereits: Die französische Regierung zeigte sich schon über die Exit-Polls erfreut. Es stehe ihr zwar nicht zu, „erleichtert oder beunruhigt zu sein“, sagte die französische Europastaatsministerin Amelie de Montchalin auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Aber eine stabile Mehrheit sei das, „was im Vereinigten Königreich seit einigen Jahren gefehlt hat“. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel gratulierte dem britischen Premier.

„Ich gehe davon aus, dass damit der Weg geebnet ist zu einem geordneten Austritt“, sagte Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein am Rande des EU-Gipfels. Ein geordneter Austritt Großbritanniens wäre sicherlich begrüßenswert. US-Präsident Donald Trump zeigte sich zufrieden. „Sieht nach einem großen Sieg für Boris aus!“, schrieb Trump in der Nacht auf Freitag auf Twitter. „Großbritannien und die Vereinigten Staaten werden nun nach dem Brexit frei sein, ein riesiges Handelsabkommen zu schließen.“