Euro-Geldscheine
ORF.at/Christian Öser
Sozialhilfereform kassiert

VfGH-Spruch mit hoher Symbolkraft

Die Beschlüsse der einstigen ÖVP-FPÖ-Regierung bereiten dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) derzeit reichlich Arbeit. Nach dem „Sicherheitspaket“, das in der Vorwoche in wesentlichen Teilen aufgehoben wurde, wurden am Dienstag auch Kernpunkte der neuen Sozialhilfe gekippt. Die Reaktionen fallen recht deutlich aus.

Aufgehoben wurden beide gegen Zuwanderer gemünzte Maßnahmen: die Verknüpfung mit Sprachkenntnissen und die Höchstsätze für Kinder. Die im Grundsatzgesetz verankerte Mindestsicherungsreform, mit der ÖVP und FPÖ die Sozialleistung für Zuwanderer weniger attraktiv machen wollten, hätte bundesweit einheitliche Höchstbeträge bringen sollen. Sie ist laut den Verfassungshütern auch in einem weiteren Punkt verfassungswidrig: So verstoße die im entsprechenden Sozialhilfe-Statistikgesetz verankerte Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten gegen das Grundrecht auf Datenschutz.

„Das ist eine schallende Ohrfeige für (ÖVP-Chef, Anm.) Sebastian Kurz. Lauter könnte die Detschn nicht knallen“, sagte der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker für die SPÖ. Die Sozialhilfe sei immerhin eines der Prestigeprojekte der damaligen Bundesregierung gewesen, gab Hacker zu bedenken. „Ich verspüre ein Gefühl der Befriedigung, dass man sich auf den Verfassungsgerichtshof verlassen kann, der sich nicht von politischem Populismus treiben und beeindrucken lässt.“ Das sei beruhigend zu wissen – mehr dazu in wien.ORF.at.

SPÖ: „Schande für Österreich“ vermieden

Etwas zurückhaltender kommentierte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner: „Kindern mit 43 Euro pro Monat ihre Zukunft zu rauben ist nicht nur unmenschlich, sondern auch verfassungswidrig.“ Es sei richtig gewesen, alle Mittel gegen dieses „unsoziale, ungerechte Sozialhilfegesetz“ auszuschöpfen, das sei „eine Schande für Österreich“ gewesen. Korinna Schumann, Vorsitzende der SPÖ-Bundesratsfraktion, die für den Gang zum VfGH verantwortlich war, ortete einen „Erfolg für die Menschlichkeit und eine Absage an die menschenfeindlichen Gesetze der ‚Ibiza-Koalition‘“.

Stefan Kaineder, stellvertretender Bundessprecher der Grünen, die sich derzeit in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP befinden, sprach von einem „guten Tag für die ärmsten Kinder in Österreich“. NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker sah sich in der Skepsis seiner Partei bestätigt. Er plädierte für eine einheitliche, großangelegte und vor allem durchdachte Reform der sozialen Absicherung in Österreich, die mehr Treffsicherheit bringen solle.

FPÖ: Urteil „schräg und weltfremd“

Auf der anderen Seite kritisierte die FPÖ den VfGH-Entscheid scharf. „Die Höchstrichter stellen mit dieser Entscheidung den Magnet für unqualifizierte Zuwanderung wieder auf Maximalleistung. Die Argumentation, gute Sprachkenntnisse würden die Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt nicht erhöhen, kann man nur noch als schräg und weltfremd bezeichnen“, sagte Klubchef Herbert Kickl. Und: „Die Verfassungsrichter setzen ihre Segel ganz offensichtlich für die sich abzeichnende schwarz-grüne Regierung. Der ÖVP wird dadurch erspart, auf Druck der Grünen Entscheidungen selbst zurücknehmen zu müssen.“

Verfassungsjurist Funk über das Urteil

Bernd-Christian Funk erklärt, wieso einige Punkte des Sozialhilfegesetzes der ÖVP-FPÖ-Regierung als verfassungswidrig erachtet wurden.

Die ÖVP zeigte sich recht wortkarg: „Wir können die Entscheidung absolut nicht nachvollziehen, und sie widerspricht vollkommen unseren politischen Überzeugungen. Aber Entscheidungen des VfGH sind in einem Rechtsstaat, auch wenn man sie inhaltlich ablehnt, endgültig“, sagte Klubobmann August Wöginger.

Auswirkungen primär symbolisch

Die Auswirkungen des VfGH-Entscheids sind eher symbolischer Natur – in der Praxis ändert sich nicht viel. Sieben Länder haben die Vorgabe des Bundes gar nicht zeitgerecht mit 1.1.2020 umgesetzt, und auf jene beiden Länder, die das bereits getan haben (Niederösterreich und Oberösterreich) hat das Erkenntnis keine unmittelbare Auswirkung – mehr dazu in noe.ORF.at und in ooe.ORF.at. Zwar könnten die Ausführungsgesetze auch verfassungswidrig sein, solange diese durch den VfGH nicht aufgehoben werden, sind sie aber anzuwenden. Für eine allfällige Aufhebung bedarf es jedoch einer neuerlichen Anrufung des VfGH in dieser Frage. Denn von sich aus tätig werden die Verfassungshüter grundsätzlich nicht.

Österreichische Verfassungsrichterinnen und -richter
APA/Hans Punz
Der VfGH hat ein weiteres Prestigeprojekt der ÖVP-FPÖ-Regierung gekippt

Im Zentrum der Kritik des Höchstgerichts standen die Regelungen zu den Höchstsätzen für Kinder und den Sprachkenntnissen. In der Regelung zu den Höchstsätzen sieht der VfGH eine „sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien“. Das Grundsatzgesetz sieht vor, dass der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung für das erste Kind 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent und für das dritte und jedes weitere Kind fünf Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes beträgt.

Diese Regelung könne dazu führen, „dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist“, heißt es im Entscheid. Gegen die Höchstsätze für Erwachsene, die sich am System der Ausgleichszulage orientieren, haben die Verfassungshüter hingegen keine Bedenken.

Fragwürdiger Nachweis von Sprachkenntnissen

Als verfassungswidrig beurteilt der VfGH auch, dass im Grundsatzgesetz der volle Bezug der Sozialhilfe an den Nachweis von Sprachkenntnissen geknüpft ist. Wer nicht nachweist, Deutschkenntnisse auf Niveau B1 oder Englischkenntnisse auf Niveau C1 zu erreichen, dem stehen laut dem Grundsatzgesetz nur 65 Prozent der regulären Leistung zu. Die Differenz von mehr als 300 Euro auf die volle Geldleistung wurde im Gesetz als Sachleistung zum „Arbeitsqualifizierungsbonus für Vermittelbarkeit“ gerechtfertigt. Mit diesem Betrag sollten also Sprachkurse finanziert werden.

Politikwissenschaftlerin Stainer-Hämmerle im Gespräch

Kathrin Stainer-Hämmerle analysiert, wie schwer das VfGH-Urteil in der Bilanz der ÖVP-FPÖ-Regierung wiegt.

Der Grundsatzgesetzgeber habe „schon deshalb eine unsachliche Regelung getroffen, weil keine Gründe ersichtlich sind, weshalb ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll“, heißt es im VfGH-Erkenntnis. „Es ist offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sind.“

Auch lasse der Grundsatzgesetzgeber außer Acht, „dass Personen aus mannigfaltigen Gründen (Lern- und Leseschwächen, Erkrankungen, Analphabetismus uvm.) nicht in der Lage sein können, ein derart hohes Sprachniveau zu erreichen, aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein können“.

Noch weitere Projekte wackeln

Neben dem „Sicherheitspaket“ und der Sozialhilfe wackeln derzeit noch weitere ÖVP-FPÖ-Projekte. So fechten etwa die betroffenen Kirchen und Arbeitnehmervertreter die Abschaffung des Karfreitags als Feiertag für Protestanten, Altkatholiken und Methodisten vor dem VfGH an. Ein anderes Gericht, nämlich der Europäische Gerichtshof, könnte die Indexierung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder zu Fall bringen. Über ein Verfahren entscheiden muss die EU-Behörde.