Die neuen Koalitionsfarben
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Türkis und Grün

Neue Farbenlehre für Österreich

2002 stand man vermeintlich knapp vor einer Koalition von ÖVP und Grünen. 2020, 18 Jahre später, haben Volkspartei und Grüne erstmals eine Einigung bei Regierungsverhandlungen erzielt. Österreich wird sich auf eine neue Farbenlehre einstellen müssen. Nicht nur, weil aus Schwarz Türkis wurde.

Es war im April 1983, als die 13-jährige Phase der SPÖ-Alleinregierungen mit dem Verlust der Absoluten zu Ende ging. Seither wird Österreich ausschließlich von Koalitionen regiert. Und blickt man in die jüngere Geschichte, dann hat wohl das Modell der früheren Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP ausgedient.

Die Koalition aus den beiden Gewinnern der Nationalratswahl im Schatten von „Ibizagate“ markiert ein Novum in der politischen Kultur des Landes auf Bundesebene. Auf Landesebene haben die Grünen schon Regierungserfahrung, auf Bundesebene betreten sie Neuland – und das unter einem Kanzler, der zuletzt eine Koalition aus ÖVP und FPÖ geführt hat.

ÖVP-Unterstützerinnen halten neben Kurz Tafeln mit dem Schriftzug 37,1 in der Hand
APA/AFP/Joe Klamar
Mit Demut wollte Sebastian Kurz sein Rekordergebnis bei der Nationalratswahl annehmen. Jetzt will er eine historisch neue Koalition in Österreich anführen.

Rot-Blau zu Rot-Schwarz

Von 1983 bis 1986 hat die SPÖ erst unter Kanzler Fred Sinowatz, dann unter Kanzler Franz Vranitzky mit der FPÖ unter Vizekanzler Norbert Steger zusammengearbeitet. Als am 13. September 1986 Jörg Haider beim Innsbrucker Parteitag die FPÖ übernahm und dabei eine Neupositionierung der Freiheitlichen einleitete, kündigte Vranitzky die Koalition auf.

Franz Vranitzky, Alois Mock, Manfred Scheich und Ulrich Stacher
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Vranitzky leitete die Ära der langjährigen und bald erdrückenden Zusammenarbeit von Rot und Schwarz gemeinsam mit Mock ein. In der Mitte Bundespräsident Thomas Klestil.

Am 23. November 1986 wurde neu gewählt. SPÖ und ÖVP verloren deutlich, aber nicht nur zugunsten der erst jungen „Haider-FPÖ“, sondern der erstmals ins Parlament eingezogenen Grünen. Am 21. Jänner 1987 wurde die erste SPÖ-ÖVP-Koalition „nach Kreisky“ – in der ersten Hälfte der Zweiten Republik war diese Regierungsform, aber mit VP-Kanzlern, die Regel – angelobt, das Kabinett Vranitzky II unter Bundeskanzler Vranitzky und Vizekanzler Alois Mock (ÖVP). Während die SPÖ zehn Jahre lang von Vranitzky geführt wurde, wechselte die ÖVP schon damals regelmäßig den Parteichef und damit den Vizekanzler. Am 24. April 1989 löste Josef Riegler (ÖVP) Mock als Vizekanzler ab.

Blau wird stärker, Rot-Schwarz versucht es erneut

Zum regulären Termin, am 7. Oktober 1990, folgten die nächsten Wahlen, die der FPÖ deutliche Zugewinne brachten – zulasten der ÖVP. Die Große Koalition ging am 17. Dezember 1990 in die nächste Runde, zunächst unter Bundeskanzler Vranitzky und Vizekanzler Riegler und ab 2. Juli 1991 mit Erhard Busek (ÖVP) als Vizekanzler.

Auch diesmal wurde die Gesetzgebungsperiode „durchgedient“. Bei den Wahlen am 9. Oktober 1994 verloren SPÖ und ÖVP neuerlich, die FPÖ und die Grünen legten wieder zu – und das Liberale Forum, das sich im Februar 1993 von der FPÖ abgespaltet hatte, zog in den Nationalrat ein. Es blieb bei der Großen Koalition, am 29. November 1994 wurde das Kabinett Vranitzky IV unter Kanzler Vranitzky und Vizekanzler Busek angelobt.

Kurswechsel unter Schüssel

Dann allerdings folgte an der ÖVP-Spitze der Personalwechsel, der die Absage an die FPÖ unter Haider und damit letztlich die Große Koalition beendete: Wolfgang Schüssel wurde Parteichef und löste Busek am 4. Mai 1995 auch als Vizekanzler ab. Schon wenige Monate darauf, im Dezember, versuchte Schüssel den ersten Ausbruch aus der Großen Koalition. Am 12. Oktober 1995 erklärte er die Budgetverhandlungen für gescheitert.

Am 17. Dezember 1995 wurde neu gewählt. Die FPÖ verlor erstmals seit Haiders Führung geringfügig, die ÖVP legte leicht, die SPÖ aber deutlich zu. Womit die ÖVP-FPÖ-Mehrheit eine recht knappe gewesen wäre. Schüssel begab sich also noch einmal als „Kleiner“ in die Große Koalition. Sie wurde am 12. März 1996 unter Kanzler Vranitzky angelobt. Diesmal kam es zum Führungswechsel in der SPÖ: Vranitzky zog sich zurück, am 28. Jänner 1997 wurde das Kabinett Klima I unter Kanzler Viktor Klima angelobt.

Von Platz drei zum Kanzler

Trotz teils schwerer Irritationen hielt die Regierung bis zum regulären Ende. Aus der Wahl am 3. Oktober 1999 ging die SPÖ deutlich geschwächt heraus, die ÖVP verlor nur geringfügig, musste sich aber hinter der FPÖ mit Platz drei zufriedengeben.

Elisabeth Sickl, Franz Morak, Susanne Riess-Passer, Karl-Heinz Grasser und Wolfgang Schüssel
APA/Harald Schneider
Von Platz drei zum Kanzler, vom Mascherl zur Krawatte: Wolfgang Schüssel schaffte für die ÖVP die Trendwende zur Macht – zuerst mit Susanne Riess-Passer als Vizekanzlerin (Mitte) und Karl-Heinz Grasser, damals noch bei den Freiheitlichen.

Dass Schüssel für diesen Fall angekündigt hatte, in Opposition zu gehen, hinderte ihn nicht daran, schließlich doch endlich eine Koalition mit den Freiheitlichen zu bilden – und sich den Kanzlersessel zu holen. Mit Angelobung der Regierung von Kanzler Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer am am 4. Februar 2000 war die Ära der Großen Koalition zu Ende.

Das „Wende“-Experiment hielt allerdings nicht lang: Riess-Passer und ein Teil der Regierungsmannschaft zogen die Konsequenz aus dem Machtkampf mit Jörg Haider, der zwar seit Mai 2000 „einfaches Parteimitglied“ war, aber bundespolitisch noch immer hoch aktiv. Die ÖVP wollte in dieser Konstellation nicht mehr weitermachen.

2002: Schüssel will noch einmal mit den Blauen

Aus der Wahl am 24. November 2002 ging die ÖVP mit 42,3 Prozent deutlich gestärkt hervor, die FPÖ sackte auf zehn Prozent ab. Obwohl das Kabinett Schüssel I vorzeitig beendet worden war, gingen die Schwarzen erneut mit den Blauen zusammen. Die FPÖ zerriss es in dieser Konstellation allerdings endgültig: Eine Gruppe rund um die blaue Regierungsmannschaft gründete nach heftiger interner Kritik am 4. April 2005 das BZÖ und setzte die Koalition den Rest der Legislaturperiode in Orange fort.

Archivbild aus dem jahr 1986: Jörg Haider wird von seinen Parteikollegen auf Händen getragen
ORF
Jörg Haider, hier 1986 auf dem Innsbrucker Parteitag, war bis zu seinem Tod ein treibender Faktor der Innenpolitik.

Nach der Nationalratswahl am 1. Oktober 2006 hatte die SPÖ knapp die Nase vor der ÖVP. Nachdem sich Spekulationen über eine „Regenbogenkoalition“ oder eine Minderheitsregierung der Roten in Luft aufgelöst hatten, standen die Zeichen bald auf Neuauflage der Großen Koalition. Freude damit hatten weder SPÖ noch ÖVP. Am 11. Jänner 2007 gelobte Bundespräsident Heinz Fischer nach zähen Verhandlungen das Kabinett Gusenbauer an. Mit den Worten „Es reicht“ trug ÖVP-Chef Wilhelm Molterer diese Koalition nach nur eineinhalb Jahren zu Grabe.

Rot/Schwarz mit neuen Gesichtern

Dies aber nur vorübergehend: Denn anders als von ihm erhofft, wurde die ÖVP bei der Nationalratswahl am 28. September 2008 nicht Erste. Die SPÖ blieb mit 29,3 Prozent vorn, die ÖVP (26,0 Prozent) wechselte den Obmann – und Josef Pröll raufte sich mit Werner Faymann (SPÖ) zusammen. Auch in dieser Periode jagte ein Neuwahlgerücht das andere und wurde mehrfach der Neustart ausgerufen. Aber die Koalition hielt – obwohl sich Pröll im April 2011 verabschiedete und Michael Spindelegger die ÖVP übernahm. Trotz aller Turbulenzen, Koalitionskrisen und Streitereien wurde die – erste auf fünf Jahre verlängerte – Gesetzgebungsperiode voll durchgearbeitet.

Völlig regulär wurde am 29. September 2013 gewählt. Allen Unkenrufen zum Trotz verteidigten SPÖ und ÖVP ihre Mehrheit – aber denkbar knapp mit zusammen 50,8 Prozent, jedoch 99 und somit ausreichend Mandaten. Die FPÖ (20,5 Prozent) rückte SPÖ (26,8) und ÖVP (24,0) zwar nahe wie nie zuvor – aber Schwarz-Blau oder die Dreiervariante mit Team Stronach gingen sich nicht aus, Rot-Grün-Pink ebenso wenig. Also verkündeten Faymann und Spindelegger wieder den „Neustart“. Kritik, Streitereien und Neuwahlspekulationen verstummten jedoch nicht.

Von Spindelegger zu Mitterlehner und Kurz

In beiden Parteien wurde intern der Unmut so groß, dass im August 2014 Spindelegger für Reinhold Mitterlehner und im Mai 2016 Faymann für Christian Kern Platz machen musste. Mit einem weiteren „Neustart“ blieb die Koalition im Amt – bis im Mai 2017 Mitterlehner das Handtuch warf. Sein Nachfolger Sebastian Kurz kündigte die Zusammenarbeit auf und setzte eine Neuwahl durch.

Diese Wahl am 15. Oktober brachte der ÖVP den großen Erfolg, den sie sich angesichts der Umfragen seit Kurz’ Antritt erhofft hatte: Mit 31,5 Prozent wurde sie weit vor der SPÖ (26,9) Erste und hielt auch die FPÖ (26,0) klar auf Distanz. Kurz war damit gelungen, was vor ihm seit 1970 (als sich die SPÖ nach vorne schob) nur Wolfgang Schüssel im Jahr 2002 gelungen war. Und genauso wie Schüssel wandte er sich vom langjährigen Koalitionspartner ab und der FPÖ zu – und schmiedete die dritte schwarz-blaue Koalition – beziehungsweise die erste türkis-blaue, denn die „neue“ ÖVP agierte bereits unter türkiser Flagge. Mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) pilgerte Kurz an der Spitze der neuen Regierung zur Angelobung durch den Bundespräsidenten.

Szene aus dem belastenden „Ibiza – Videos“ in der Causa Strache
APA/Spiegel/Süddeutsche/Harald Schneider
„Ibiza“ und die Wende in der österreichischen Innenpolitik

Dann kam „Ibiza“

Strache war es allerdings auch, der die türkis-blaue Regierungszusammenarbeit zu Fall brachte. Bereits vor dem Regierungseintritt versteckt gefilmte Szenen in einer Villa auf der Ferieninsel Ibiza zeigten Strache und seinen FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus bei Planspielen für den Verkauf der Republik – von der Übernahme der „Kronen Zeitung“ bis hin zu verdeckter Parteienfinanzierung wurde gesprochen. Der 18. Mai 2019 geht wohl als einer der innenpolitisch turbulentesten Tage in die Geschichte ein: Nach der Veröffentlichung des Videos verkündete der damalige Vizekanzler Strache an diesem Tag seinen Rückzug aus allen politischen Funktionen, Kanzler Kurz beendete mit den Worten „genug ist genug“ die Koalition mit den Blauen und rief – auch wegen eines Streits um das Innenministerium von Herbert Kickl (FPÖ) – Neuwahlen aus.

Doch auch Kurz geriet gewaltig in den Strudel der „Ibiza-Affäre“. Trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht, sich selbst im Kanzleramt zu halten. Auf das Betreiben der SPÖ hin wurde Kurz im Nationalrat das Misstrauen ausgesprochen. Der damalige Finanzminister Hartwig Löger folgte Kurz als interimistischer Kanzler. Bundespräsident Alexander Van der Bellen enthob die Regierung des Amtes.

Novum Übergangsregierung

Am 30. Mai präsentierte Van der Bellen dann eine neue Kanzlerin. An der Spitze der Übergangsregierung stand mit VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein die erste Bundeskanzlerin der Zweiten Republik. Gemeinsam mit dem souverän durch die Regierungskrise führenden Van der Bellen bildete sie ihre Expertenregierung und gab als Devise für die Minister „verwalten statt gestalten“ aus. Die meisten Minister legten ihr Amt tatsächlich eher defensiv an, lediglich auf grobe Missstände etwa im Verteidigungs- oder im Justizressort wurde aufmerksam gemacht.

Sebastian Kurz und Werner Kogler
ORF.at/Christian Öser
Harmonie gibt es noch nicht als App. Sebastian Kurz und Werner Kogler im Dezember bei der Suche nach der Feinabstimmung.

Mit der Einigung von ÖVP und Grünen in den Koalitionsverhandlungen steht jetzt erstmals eine türkis-grüne Regierung vor der Tür. Sebastian Kurz zieht erneut ins Kanzleramt ein, Vizekanzler wird Grünen-Chef Werner Kogler.