Britisches Fischerboot
Reuters/Neil Hall
Abkommen ausständig

Ein großer Fisch im Brexit-Streit

Großbritannien wird am 31. Jänner aus der EU austreten. Doch das bedeutet freilich lange noch nicht das Ende der Brexit-Odyssee, wollen beide Seiten doch mehrere Abkommen aushandeln. Ein riesiges Thema ist dabei der Hochseefischfang. Schon mit 1. Juli wollen sich die EU und Großbritannien hierbei einig werden. Dabei ist sicher, dass sich die großen Fische niemand durchs Netz gehen lassen will.

Die EU fängt ungefähr drei von sechs Millionen Tonnen Fisch pro Jahr aus britischen Gewässern, die über besonders reiche Fanggründe verfügen. Tritt Großbritannien aber aus der EU aus, ist dieser Anteil im wahrsten Sinne des Wortes „für die Fisch“ – zumindest, solange es kein Abkommen gibt. Der Fischereiausschuss des Europaparlaments bestätigte gegenüber ORF.at, dass ein solches bis zum 1. Juli angestrebt wird. Das Datum ist jedoch nicht verpflichtend.

Kein Abkommen hätte allerdings weitreichende Folgen. In erster Linie könnte es bedeuten, dass die EU nicht mehr in britischen Gewässern fischen darf und die Briten nicht mehr in EU-Gewässern. Beachtet man die Fangmenge, würde das für die EU-27 einen wesentlich größeren Verlust bedeuten als für Großbritannien. Doch gehe es nicht nur darum, wer mehr fische, erklärte Ska Keller, grüne EU-Abgeordnete und Mitglied des Fischereiausschusses, gegenüber ORF.at.

„Gefangener Fisch muss auch noch verkauft werden“

Es sei nämlich nicht so, „dass britischen Fischerinnen und Fischern allein durch einen exklusiven Zugang zu britischen Gewässern geholfen wäre“, so Keller. „Der gefangene Fisch muss natürlich auch noch verkauft werden. Die Frage des Zugangs zum europäischen Binnenmarkt für diese Produkte ist also neben der Frage, wer wo Fischen kann, zentral.“

Fischmarkt in Athen
Reuters/Ronen Zvulun
Ein Großteil des europäischen Fisches wird in britischen Gewässern gefangen

Großbritannien exportiert derzeit etwa 80 Prozent seines Fischfangs, den Großteil davon in die EU. Das wäre ohne Zugang zum europäischen Binnenmarkt freilich unmöglich. Deshalb liegt es an der EU und Großbritannien, neben einem Abkommen zur Fischerei auch entsprechende Handelsabkommen abzuschließen. „Wenn es kein Handelsabkommen gibt, fallen für Exporte des Vereinigten Königreichs in die EU WTO-Tarife an. Das hätte natürlich Auswirkungen darauf, von wo die EU wie viel Fisch importiert, und würde sicherlich der britischen Fischindustrie schaden“, prognostizierte Keller. Entsprechend gebe es auf beiden Seiten großes Interesse an einem Abkommen.

Obwohl die Vorbereitungen dafür laufen würden, könne sie ORF.at noch keine Details bekanntgeben. Die EU-Politikerin zeigte sich in einem Statement allerdings besorgt, ob der 1. Juli als Termin für ein Abkommen halten könne. Auch der EVP-Abgeordnete David McAllister, Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten im EU-Parlament, bezeichnete kürzlich ein Fischereiabkommen bis zum 1. Juli als „extrem schwierig“.

Noch größere Gefahr für Ökologie der Meere?

Dabei wäre eine schnelle Einigung wichtig, weil Mitte des Jahres die wissenschaftliche Empfehlung für die Fangmengen bestimmter Fischarten fertiggestellt wird. Diese ist die Grundlage für Fangquoten. „Es ist natürlich schwierig, Fangquoten festzulegen, ohne die grundsätzliche Basis für den Fischfang ab 2021 geklärt zu haben“, erläuterte Keller das Dilemma. 2021 deshalb, da am 31. Dezember 2020 die Übergangsperiode für den Brexit endet. Bis dahin ist Großbritannien prinzipiell wie ein Mitgliedstaat der EU zu behandeln.

Was in der ganzen Debatte zusätzlich nicht zu kurz kommen dürfe, sind die ökologischen Ziele des europäischen Fischfangs, forderte Keller. „Es darf keine Rückschritte bezüglich nachhaltiger Bewirtschaftungsmethoden geben“, so die Abgeordnete. „Der letztjährige IPCC (Weltklimabericht, Anm.) ist hier sehr deutlich. Gerade in Zeiten des Klimawandels gilt es, jeden zusätzlichen Stress auf das Ökosystem Meer zu verhindern. Klare ökologische Leitlinien für Fischerei sind das A und O.“ Ohne Abkommen werde sich die Situation „mit großer Sicherheit“ verschlimmern. Laut dem Umweltverband WWF gelten bereits 33 Prozent der kommerziell genutzten Fischbestände als überfischt und 60 Prozent als maximal genutzt.

Weniger als ein Prozent der Wirtschaftsleistung

Dass dem Fischfang eine so große Rolle im Brexit zugeschrieben wird, ist durchaus beachtlich, trägt doch der Industriezweig nicht einmal ein Prozent zur Wirtschaftsleistung der gesamten EU bei, und auch in Großbritannien ist die Zahl kaum höher. Bloß 260.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger arbeiten in der Fischerei, das sind in etwa 0,12 Prozent der Erwerbstätigen. Davon sind rund 35.000 Britinnen und Briten.

Pro-Brexit-Fischer
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
Viele britische Fischerinnen und Fischer setzten sich dafür ein, die EU zu verlassen

Doch ist die Hochseefischerei auf beiden Seiten von hoher sozialer und kultureller Bedeutung. So sind es die strukturschwächeren Gebiete an den Küsten der EU, die von regionalen EU-Fördergeldern abhängig sind. Zusätzlich herrschen in den Fischereibetrieben häufig harte Arbeitsbedingungen für wenig Lohn. In einigen Küstengebieten ist der Fischfang die Haupteinnahmequelle, vor allem kleinere Fischereibetriebe kämpfen oftmals um ihre Existenz.

Nicht zuletzt ist Fisch häufig fester Bestandteil so mancher europäischer Esskultur, man denke etwa an Fish and Chips in Großbritannien und an das Fischstäbchen, quasi das kontinentaleuropäische Pendant dazu. Der meiste Fisch, der dafür verwendet wird, stammt allerdings weder aus britischen noch aus EU-Gewässern, sondern aus der Arktis.

Verlängerung der Übergangsfrist unwahrscheinlich?

Dennoch wurde die Symbolik rund um die Fischerei 2016 stark von der mächtigen britischen Fischereilobby genutzt, um für den Brexit zu werben – in der Hoffnung, danach besser auszusteigen. Und da die Fisch- und Meeresfrüchteindustrie in einer Vielzahl der küstennahen Wahlkreise eine große Rolle spielt, stimmte dort ein Großteil der Bevölkerung auch für den Brexit.

Etliche britische Parlamentarier und Parlamentarierinnen würden sich deshalb auch der Industrie und der Fischereilobby verpflichtet fühlen, einen guten Vertrag auszuhandeln, meinen EU-Beobachterinnen und -Beobachter. EU-Abgeordneter McAllister wies gegenüber Medien darauf hin, dass er deshalb von einer Lösung innerhalb der Übergangsperiode bis Ende 2020 ausgehe und eine weitere Verlegung der Brexit-Übergangsfrist für „ausgeschlossen“ halte – übrigens ebenso wie der britische Premier Boris Johnson selbst. Eine Verlängerung wäre allerdings theoretisch um bis zu zwei Jahre möglich, eine Entscheidung darüber müsste bis Juli getroffen werden.

In solch einem Szenario ist allerdings damit zu rechnen, dass die Debatten in Großbritannien wieder von vorne losgehen würden, so etwa auch die Vorwürfe, Johnson hätte nicht Wort gehalten. Ob der britische Premier sich dieser Schmach vor den Brexit-Befürworterinnen und -Befürwortern hingeben würde, gilt deshalb als äußerst unwahrscheinlich. Viele Beobachterinnen und Beobachter in Brüssel gehen jedenfalls davon aus, dass es zumindest zu einem oberflächlichen Handelsabkommen innerhalb der Übergangsfrist kommen werde.