Volksschülerin im Klassenzimmer
ORF.at/Carina Kainz
„Bescheiden“ bis „enttäuschend“

Experten vermissen Ziel bei Bildungspolitik

Als ein „Sammelsurium von Maßnahmen“ ohne den Versuch eines gemeinsamen Ziels sehen der Bildungsexperte Stefan Hopmann und die Expertin Heidi Schrodt die türkis-grünen Pläne in der Bildungspolitik. Das Koalitionsprogramm im Bildungsbereich setzt in weiten Teilen die Vorstellungen der ÖVP-FPÖ-Regierung fort – wenn auch mit grünen Einsprengseln.

Selbst der grüne Politiker Harald Walser, der das Bildungskapitel mitverhandelte, gab zu, dass ihm das Ergebnis der Verhandlungen in diesem Bereich trotz einiger Verbesserungen in Schule und Lehre „großes Bauchweh“ bereite. Die ÖVP sei im Bildungsbereich „besonders zäh“ gewesen. Die Urteile der Experten bewegen sich zwischen „bescheiden“ und „enttäuschend“.

„Rückschritte“ der ÖVP-FPÖ-Regierung wie Sitzenbleiben und Ziffernnoten ab der zweiten Schulstufe und die Deutschförderklassen blieben erhalten, kritisierte Bildungsexpertin Schrodt von der Initiative „Bildung Grenzenlos“ im ORF.at-Interview. Schulautonomie sei weiterhin kein Thema. In wichtigen Punkten fehle der Zeitrahmen und die Erklärung, wie die Pläne finanziert werden sollen – etwa beim angepeilten Ausbau der Ganztagsschulen und der Ankündigung, administratives Personal sowie Schulsozialarbeit und -psychologie auszubauen.

„AHS-‚Aufnahmeprüfung‘ durch die Hintertür“

Bildungswissenschaftler Hopmann von der Universität Wien bemängelte gegenüber ORF.at vor allem den fortgeführten Fokus auf Tests, Evaluierungen und Kompetenzmessungen: „Es herrscht nach wie vor der Glaube, dass man durch Tests Schulübergänge objektivieren kann. Das ist durch nichts belegbar.“ Vielmehr werde dadurch die soziale Ungleichheit verschärft, da diejenigen, die die Ressourcen zur Verfügung hätten, mit diesen Strukturen leichter umgehen könnten.

Schüler im Klassenzimmer
APA/Herbert Pfarrhofer
An den standardisierten Tests und Kompetenzmessungen will die türkis-grüne Regierung festhalten

Noch deutlicher wird die Buchautorin und langjährige Pädagogin Schrodt: „Ich bin schockiert über die ‚Aufnahmeprüfung‘ durch die Hintertür für die AHS (Allgemeinbildenden Höheren Schulen, Anm.) bereits in der dritten Klasse Volksschule.“ Die in den Koalitionsplänen beschriebene Kompetenzmessung in der dritten Schulstufe sei nichts Neues. Aber nun soll sie – gemeinsam mit dem Jahreszeugnis der dritten Klasse und der Schulnachricht der vierten Klasse – Grundlage für die Entscheidung des weiteren Bildungswegs sein.

Paul Kimberger, oberster Vertreter der Pflichtschullehrer, begrüßt diese zusätzlichen Kriterien hingegen. Damit werde Druck aus der vierten Klasse Volksschule genommen, „es ist teils skurril, was sich hier von Elternseite abspielt“. Für Schrodt ist diese Perspektive aus dem Blickwinkel der Lehrer verständlich: „Aus Sicht der Kinder ist das heller Wahnsinn.“

Frage der Ferienbetreuung

Skeptischer hingegen zeigte sich Kimberger über die möglichen neuen Aufgaben von Lehrern und Lehrerinnen in längeren Ferien. Rund 13 Wochen haben Schulkinder bis Ende 2020 Ferien – verlängerte Wochenenden mit schulautonomen Tagen sind hier noch nicht mit einberechnet. Eine Woche in ganz Österreich einheitliche Herbstferien kommt mit dem Schuljahr 2020/2021 erstmals dazu.

Die neue Regierung will daher „mehr Ferienbetreuung und Sommerunterricht für jene, die es brauchen, um Eltern zu entlasten“. Kimberger wirkte diesbezüglich überrascht: „Das wurde vorher noch nie thematisiert.“ Es sei ihm daher auch nicht ganz klar, worum es sich dabei handeln soll. Es sei jedenfalls nicht die Aufgabe der Lehrenden, Kinder zu betreuen, sondern zu erziehen und Wissen zu vermitteln. Im Koalitionsprogramm ist die Rede von speziellen Ferienangeboten wie Unternehmenswochen und Sport- und Kulturangeboten.

Ethikunterricht für „Abmelder“

Geblieben sind die unter dem Bildungsminister der ÖVP-FPÖ-Regierung, Heinz Faßmann, eingeführten Deutschförderklassen – mit wissenschaftlicher Begleitung und Evaluierung. Schrodt hofft auf den nun angekündigten größeren Gestaltungsspielraum in den Schulen, die Deutschklassen umzusetzen. Zudem sollen Schüler, die danach in eine Regelklasse wechseln, weiterhin verpflichtende Förderstunden erhalten.

Zentrale Forderungen der Grünen wie etwa die Entwicklung einer Gesamtschule und Ethikunterricht für alle werden nicht kommen. Ethikunterricht soll es zwar geben – allerdings nur für diejenigen, die keinen Religionsunterricht besuchen.

Bildungsminsiter Heinz Faßmann (ÖVP)
APA/Roland Schlager
Die unter Faßmann eingeführten Deutschförderklassen werden auch unter der türkis-grünen Regierung fortgesetzt

Hohe Lehrerdichte in Österreich

Als „Spiel für die Galerie“ bezeichnete Hopmann die – im Koalitionsprogramm nicht näher spezifizierte – Aufstockung an „Supportpersonal“ in der Verwaltung und bei der Sozialarbeit sowie bei Schulpsychologen. Offen bleibt, wer dieses bezahlen soll. In Österreich gebe es zudem eine hohe Lehrerdichte, erklärt Hopmann. In anderen Ländern sei der Anteil an unterstützendem Personal – von Sprachassistenten über Ergotherapeuten bis zu Psychologen – im Verhältnis zu den Lehrern wesentlich höher.

Würde in Österreich noch zusätzlich Personal verpflichtet, ohne an der Beschäftigung der Lehrer etwas zu ändern, wäre das eine Milliardeninvestition. Die sei aber nicht sichtbar, so Hopmann: „Einmal pro Woche einen Schulpsychologen an der Schule zu haben ist nett, ändert aber am Schulalltag wenig. Diese müssten in der Schule verankert sein.“ Der Wiener Bildungs- und Integrationsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) machte Druck für mehr Personal: „Ich erwarte mir schon sehr bald auch von den Grünen konkrete Schritte. Papier ist geduldig, ich bin es bald nicht mehr“ – mehr dazu in wien.ORF.at.

Laptop nach der Volksschule

Großes Augenmerk legt die türkis-grüne Regierung auf die Digitalisierung der Schulbildung. Ein wichtiger Schritt, betonen die Experten. Dass jeder Schüler und jede Schülerin ab der fünften Schulstufe mit „digitalen Endgeräten“ ausgestattet werden soll, hält Hopmann aber für „rausgeworfenes Geld“: „Sinnvolle Digitalisierung ist eine didaktische Frage und keine des Endgeräts. Da wird das Pferd an der falschen Stelle aufgezäumt.“ Für diese Geräte ist laut Koalitionsprogramm ein sozial abgefederter „privater Finanzierungsanteil“ vorgesehen.

Hoffen auf Chancenindex

Positiv bewerten die Bildungsexperten den Chancen- und Entwicklungsindex. Damit sollen – vorerst 100 – besonders belastete Schulen gezielt unterstützt und gefördert werden. Schrodt: „Das ist gut. Aber 100 Schulen sind zu wenig. Offen ist auch, wie viel Geld hier fließen soll.“

Lob gibt es auch für den starken Fokus auf die Elementarpädagogik und den Wunsch, die Betreuungsplätze dafür auszubauen und den Personalmangel durch eine Ausbildungsoffensive abzufedern. Die in anderen Ländern bereits übliche universitäre Ausbildung für Kindergartenpädagogen sieht das Koalitionsprogramm aber erst „in weiterer Folge“ vor.

Bildungspflicht bis 18

Die Regierung will zudem die Mittlere Reife vor dem Ende der neunten Schulstufe einführen. Damit sollen Basiskompetenzen in Mathematik, Deutsch und Englisch überprüft werden. Das heißt, auch wenn die Schulpflicht nach der neunten Schulstufe endet, können Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ihre Schullaufbahn erst beenden, wenn sie die wichtigsten Grundkompetenzen erlernt haben (Bildungspflicht). Hopmann: „Die Mittlere Reife ist kein Fehler, wenn es nicht zur Kontrollmarotte verkommt.“