Historische Aufnahme der Einfahrt des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau
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75 Jahre Befreiung

Das Ende des Todeslagers Auschwitz

Für die letzten Gefangenen des KZ Auschwitz hat das Ende ihres Martyriums mit einer Explosion begonnen. Die Rote Armee nahte, die Nazis traten den Rückzug an. Davor sprengten sie das Krematorium, 60.000 Häftlinge wurden auf Todesmärsche geschickt. Als die Rote Armee am 27. Jänner 1945 Auschwitz erreichte, fand sie nur noch einige tausend Überlebende – und Beweise für das präzedenzlose Verbrechen der Menschheit, die industrielle Tötung von mehr als einer Million Menschen. Am Montag jährt sich die Befreiung des KZ Auschwitz zum 75. Mal.

Um 9.00 Uhr Morgen erreichten die Soldaten der 1. Ukrainischen Front das Lager. Zwischen Baracken und Stacheldraht sahen sie die Folgen der NS-Vernichtungspolitik: Leichen, Sterbende und Berge von Schuhen, Brillen, Prothesen und anderen Besitztümern der Opfer. Gerettet werden konnten nur rund 7.600 Menschen, die meist zu schwach für die Räumung des Lagers waren. Sie hätten eigentlich noch von SS-Angehörigen getötet werden sollen, doch dazu kam es nicht mehr.

Den russischen Soldaten bot sich nur ein Ausschnitt des Grauens. 7.000 Menschen wurden gerettet – gestorben ist im industriellen Tötungskomplex Auschwitz eine kaum fassbare Zahl an Menschen. In nur fünf Jahren wurden im Stammlager, in Birkenau, Monowitz und den Nebenlagern mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet, die meisten von ihnen Juden und Jüdinnen. Durch Gas und Gift, durch Zwangsarbeit, durch grauenhafteste medizinische Menschenversuche, Erschießungen, Prügel, Hunger und Krankheiten. Auschwitz wurde zum Inbegriff des Holocaust und des Menschheitsverbrechens.

Angehörige des Roten Kreuzes tragen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau einen verängstigten 15-Jährigen
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Szenen der Befreiung: Rettungskräfte tragen einen 15-Jährigen aus dem KZ

Todesmarsch in Richtung NS-Deutschland

In den Stunden der Befreiung befand sich dieses noch in der Ausführung, die Nationalsozialisten waren noch nicht besiegt. Auch nicht in Auschwitz: Kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee trieben die Nazis 60.000 „arbeitsfähige“ Gefangene aus Auschwitz und den Nebenlagern zusammen und zwangen sie zu einem Todesmarsch Richtung Westen – die ohnehin am Boden liegende NS-Kriegswirtschaft konnte und wollte nicht auf die Sklavenarbeit verzichten. Zudem sollten die Gefangenen als „Verhandlungsmasse“ in Gesprächen mit den Alliierten dienen, glaubt die Forschung heute.

Der Marsch Richtung NS-Deutschland sollte für die Lagerinsassen zur nächsten Tortur werden. Mit dünner Häftlingskleidung und Holzschuhen bekleidet, entkräftet und krank, mussten sich die Menschen bei eisigen Jänner-Temperaturen und Schneefall Richtung Westen durchkämpfen. Gegen Ende der Kolonne wartete ein Erschießungskommando, das „marschunfähige“ Personen ermordete.

Gedenktafel für die Opfer des Todesmarschs
Noch heute markieren meist in der Nachkriegszeit aufgestellte Mahnmale die Routen der Todesmärsche. Diese nahmen nicht nur von Auschwitz, sondern von all jenen Konzentrationslagern Ausgang, die von den Alliierten erreicht wurden.

Zwischen 9.000 und 15.000 Personen mussten auf dem Todesmarsch von Auschwitz ihr Leben lassen, der Rest wurde in andere Lager verfrachtet, wo sich die mörderischen Zustände bis zum Kriegsende fortsetzten. Die von der Roten Armee geretteten Menschen im Lager wurden großteils in einem im KZ eingerichteten Lazarett betreut, oft monatelang. Viele von ihnen überlebten nicht, starben an den Folgen von Hunger, Krankheit oder Verletzung. Auch ehemalige Häftlinge kümmerten sich um die Behandlung, etwa der österreichische Arzt Otto Wolken, der damals selbst nur 38 Kilogramm wog und an Fleckfieber litt. Er sagte später in den Auschwitz-Prozessen aus.

Industriell organisierter Massenmord

Dass das KZ gerade am Bahnknotenpunkt Auschwitz eingerichtet wurde, war kein Zufall. Es lag zentral im von den Nazis besetzten Europa, mit Zügen wurden Millionen Menschen in das Lager gebracht. Von Wien etwa ist das KZ nur 280 Kilometer Luftlinie entfernt.

Das Lager nahe der Stadt Auschwitz war ursprünglich als Verbannungsort für Polen gedacht, die sich der deutschen Besatzungsmacht widersetzten. Der erste Transport mit 728 politischen Häftlingen kam am 14. Juni 1940 in Auschwitz an. Im dritten Kriegsjahr bestimmten die Nazis Auschwitz zum Ort des Völkermords an den europäischen Juden. Bis 1942 entstand in Birkenau die größte Todesfabrik der Nationalsozialisten.

Die meisten Ermordeten waren Juden und Jüdinnen aus besetzten Ländern Europas. Auch Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Gefangene vieler anderer Nationen litten und starben im Lager. In den zahlreichen Nebenlagern mussten Häftlinge Sklavenarbeit für die deutsche Kriegswirtschaft leisten. In Birkenau gab es ein eigenes Frauenlager und ein ab August 1944 zur Gänze liquidiertes Lager für Roma und Sinti.

„Die meisten Häftlinge sind stehend gestorben“

Im vergangenen Jahr starb mit Marko Feingold 106-jährig einer der letzten österreichischen Zeitzeugen. Er überlebte vier Konzentrationslager, darunter auch Auschwitz.

Am Rande wahrgenommen

Zeitgenössisch wurde die Befreiung des KL Auschwitz, wie es damals noch hieß, im Chaos der letzten Kriegsmonate eher am Rande wahrgenommen. Bereits am 23. Juli 1944 hatte die Rote Armee mit dem KZ Majdanek das erste große NS-Lager in Polen erreicht. Ähnlich wie in Auschwitz hatten die Nationalsozialisten das Lager bereits geräumt und nur rund 1.000 Gefangene zurückgelassen. Trotzdem gingen die Schreckensbilder aus Majdanek und später vor allem auch aus Bergen-Belsen durch die ausländische Presse und wurden in der Folge auch in der Nachkriegszeit entsprechend häufiger genannt.

Sowjetsoldaten mit überlebenden Häftlingen vor dem Eingang zum Krankenbau im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
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Sowjetsoldaten mit überlebenden Häftlingen vor dem Eingang zum Krankenbau

Das Ausmaß des Grauens auch in Auschwitz war aber bereits bekannt, nach der Niederlage der Nationalsozialisten brachten auch österreichische Zeitungen Berichte aus dem Lager. Im Mai 1945 schrieb die Zeitung der Allparteienregierung, „Neues Österreich“, dass man von bis zu 6.500.000 Opfern ausgehen müsse – eine Zahl, die wahrscheinlich bewusst seitens der Sowjets erhöht wurde.

Der Zeitungsartikel schilderte bereits damals unter Berufung auf fünf Zeitzeugen die mörderischen Schikanen: „Arbeit so schwer, dass sie einer Ausrottung gleichkam“, Massenhinrichtungen vor einer eigens installierten Kugelfangwand, Selektionen, bei denen SS-Führer und SS-Ärzte die Kinder, Schwachen, Alten und Arbeitsunfähigen von den Übrigen trennten, die Maskierung der Gaskammern als Badezimmer.

Ein Tabu über Jahre hinweg

Doch die Beschäftigung damit währte nicht lange – Auschwitz und die Schoah wurden in den Nachkriegsjahren zum Tabu. Selbst der große Auschwitz-Prozess in Frankfurt von 1962 bis 1965 wurde in Österreich nur bedingt wahrgenommen. Bis in die 1950er Jahre wurde Auschwitz in der Öffentlichkeit zudem als Ort des Leidens der politisch Verfolgten und des Widerstands von Österreichern thematisiert, auch weil die 1958 ins Leben gerufene Lagergemeinschaft Auschwitz deutlich unter kommunistischem Einfluss stand.

Luftaufnahme des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau
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Das Vernichtungslager umfasste zu Kriegsende über 40 Quadratkilometer und 48 Nebenlager

Die Juden und Jüdinnen als größte Gruppe der Opfer von Auschwitz standen nicht im Mittelpunkt. Sie wurden unter dem Sammelbegriff „Opfer politischer Verfolgung“ eingeordnet. Erst Anfang der 1960er Jahre – unter anderem ausgelöst durch den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem – startete ein öffentlicher Aufarbeitungsprozess. In den Jahrzehnten danach wurde Auschwitz auch zum Synonym für NS-Verbrechen.

Nicht alle Opfer identifiziert

Seither wurden Abertausende Seiten über Auschwitz geschrieben, die Aufarbeitung ist aber trotzdem nicht zu Ende. So sind etwa nicht alle in Auschwitz getöteten Opfer eindeutig identifiziert. Rund 900.000 Menschen aus ganz Europa wurden ohne Registrierung unmittelbar von der Selektionsrampe in die Gaskammern geschickt und ermordet. Dokumente über sie gibt es im Lager keine. Bis heute bemüht sich die Auschwitz-Gedenkstätte darum, mit Transportlisten auch ihnen einen Namen und ein Schicksal zu geben. 60 Prozent konnten so bisher eindeutig identifiziert werden, die Arbeit geht weiter.

Eine Frau geht in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an einem Haufen ausgestellter Schuhe von Gefangenen des Konzentrationslagers vorbei
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Schuhe der Opfer im staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau

Im Lager selbst – heute Gedenkstätte – will man die Erinnerung an die Opfer des Holocaust am Leben halten. Dort finden am Montag auch die offiziellen Feierlichkeiten statt. Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat dazu zahlreiche Staats- und Regierungschefs eingeladen. Vertreter und Vertreterinnen aus rund 50 Staaten reisen an, darunter Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Israels Staatschef Reuven Rivlin. Erwartet werden dazu neben der Spitzenpolitik rund 200 Überlebende aus aller Welt. Sie gehören zu den Letzten, die noch von den Grauen des Vernichtungslagers berichten können.