Filmszene aus „1917“
Universal Pictures
„1917“

Spießrutenlauf durch das Kriegsgrauen

Zwei Soldaten und eine schier unmögliche Mission: In „1917“ nimmt Regisseur Sam Mendes („James Bond 007: Spectre“) das Kinopublikum mit zu einem Spießrutenlauf durch das Grauen des Ersten Weltkriegs. Der Film, gedreht in vermeintlich einem Shot, ist heuer zu Recht einer der großen Favoriten bei den Oscars.

Die Lance Corporals William Schofield und Tom Blake (gespielt von den aufstrebenden britischen Schauspielern George MacKay und Dean-Charles Chapman) dösen vor sich hin. Es ist der 6. April 1917. Ein historisches Datum: An jenem Tag traten die USA an der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg ein, wodurch sich die Kräfteverhältnisse an der Westfront endgültig zugunsten Frankreichs und des Vereinigten Königreichs verschoben.

Schofield und Blake wissen davon nichts. Es ist ruhig in ihrem Frontabschnitt. Die Deutschen haben sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurückgezogen und ihre Stellungen nur wenige hundert Meter von den britischen Schützengräben aufgegeben. Der Vorgesetzte kommt, weckt die beiden. Der nächste Befehl wartet – doch statt einer einfachen Aufgabe, wie Lebensmittelvorräte aus dem Hinterland an die Front zu transportieren, wartet ein Himmelfahrtskommando.

Filmszene aus „1917“
Universal Pictures
Blake (Chapman, links) und Schofield (MacKay): Von der ersten Minute an heftet sich die Kamera an die Fersen der jungen Soldaten

Im Auftrag von General Erinmore (Colin Firth) müssen die Soldaten eine Botschaft an eine britische Armeeeinheit übermitteln, die im Begriff ist, in eine Falle der Deutschen zu laufen. Viel Zeit bleibt nicht: Der Sturmangriff auf die vermeintlich schwach gesicherten deutschen Stellungen soll bereits am nächsten Tag beginnen, und weil die Deutschen auf ihrem Rückzug die Telegrafenleitungen zerstört haben, kann der Oberbefehlshaber der Einheiten nicht aus der Ferne gewarnt werden. Das Leben von 1.600 Männern steht auf dem Spiel, darunter jenes von Blakes Bruder. Der schnellste Weg zu den Kameraden führt durch Feindesland.

Der Weg durchs Niemandsland

Vom Aufwachen der beiden Soldaten an heftet sich die Kamera, geführt von Oscar-Preisträger Roger Deakins („Blade Runner 2049“), an die Fersen der jungen Männer. Aus dem Labyrinth der Schützengräben geht es ins Niemandsland, der Todeszone zwischen den Stellungen der beiden Armeen. Artilleriebeschuss hat das Gebiet in eine Mondlandschaft verwandelt. Zwischen Kratern, den abgebrannten Resten von Bäumen und Stacheldrahtverhauen liegen die Leichen der Gefallenen, die noch nicht von ihren Kameraden geborgen werden konnten.

Filmszene aus „1917“
Universal Pictures
An vorderster Front: Leutnant Leslie (Andrew Scott, li.) will nicht glauben, dass die Deutschen sich wirklich zurückgezogen haben

Schofield und Blake kämpfen sich durch den Schlamm, und das Publikum mit ihnen, begleitet von einer ständigen Angst: Der General hat gesagt, die Deutschen hätten sich zurückgezogen. Die Soldaten in den vordersten Schützengräben aber schwören, noch in der Nacht zuvor mit den „Hunnen“ gekämpft zu haben. Der Kommandant an der vordersten Front, Leutnant Leslie (Andrew Scott), kommentiert die Mission der jungen Soldaten mit Galgenhumor und gibt Schofield und Blake noch eine Fleißaufgabe mit.

Der Anfang vom Ende

„1917“ ist alles andere als leichte Kinokost, dafür aber vor allem audiovisuell hohe Kinokunst. Von der ersten Minute an sorgen Regisseur Mendes, der gemeinsam mit der Schottin Krysty Wilson-Cairns auch das Drehbuch schrieb, und Kameraveteran Deakins dafür, dass das Publikum eingesaugt wird in eine Hölle, in der eine tödliche Prüfung die nächste jagt.

Die Geschichte ist strikt aus der Perspektive der beiden Soldaten erzählt. Die Kamera bewegt sich mit ihnen und um sie herum. Die gut ausgebauten Schützengräben der Deutschen machen Eindruck auf die jungen Männer. Aus ihrer Sicht scheint der Feind übermächtig – ja selbst die Ratten seien auf deutscher Seite größer, wie Blake feststellt.

In Wirklichkeit wurde die Übermacht der Alliierten an der Westfront im Laufe des Jahres 1917 immer deutlicher. Den historischen Hintergrund zum Film bildet das „Unternehmen Alberich“, bei dem sich die Deutschen für die Alliierten überraschend in die „Siegfriedstellung“ zurückzogen, um sich nach den Materialschlachten des Jahres 1916 strategisch in eine bessere Position zu bringen. Dabei wandten sie die Taktik der „verbrannten Erde“ an und zerstörten auf ihrem Rückzug alles, was dem Gegner auch nur irgendwie von Nutzen sein könnte.

Surreale Schönheit

„1917“ kommt ohne Rückblenden aus, fast ohne Charakterzeichnung und mit kleinen Rollen für Hollywood-Größen wie Firth und Benedict Cumberbatch. Der Feind ist als namenlose Bedrohung dargestellt, ganz so, wie ihn die beiden Soldaten eben wahrnehmen. Das Atemberaubende am Film ist indes die audiovisuelle Umsetzung. Indem Mendes die Schnitte zwischen den Szenen auf ein Minimum begrenzt, verdeutlicht er die klaustrophobe Atmosphäre der Schützengräben.

Filmszene aus „1917“
Universal Pictures
Zwischen Momenten der Gefahr liegen solche von surrealer Schönheit

Das Publikum spürt die Angst der Soldaten vor der allgegenwärtigen Gefahr. Der Orchestersoundtrack von Thomas Newman trägt das Seinige zur Stimmung des Films bei. Das Zusammenspiel von Bild und Musik ist fein austariert. Nur an wenigen Stellen setzt Mendes dem Publikum einer Reizüberflutung aus, was er aber an anderer Stelle durch Szenen von surrealer Schönheit wettmacht.

Weltkriegsdrama „1917“ für Oscars nominiert

Schon bei den Golden Globes wurde „1917“ als bestes Drama und für die beste Regie ausgezeichnet. Regisseur Mendes ließ sich von seinem Großvater inspirieren, von dessen Erzählungen vom ersten Weltkrieg.

Alles in allem ist „1917“ in diesem Jahr zu Recht in gleich zehn Kategorien für den Oscar nominiert. Mit dem Film hat Regisseur Mendes seinem Großvater ein Denkmal auf der Kinoleinwand gesetzt. Alfred J. Mendes diente im Ersten Weltkrieg selbst in der britischen Armee. Wegen seiner zierlichen Statur wurde er tatsächlich für Aufklärungsmissionen im Niemandsland eingesetzt.