Blick durch ein Fenster in einen Operationssaal
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Tausende auf Wartelisten

Deutschland und das Organspendeproblem

Der deutsche Bundestag hat am Donnerstag einen Vorstoß des Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) abgelehnt, der alle Bürger und Bürgerinnen automatisch zu Organspendern und Organspenderinnen gemacht hätte. Organspenden bleiben in Deutschland somit weiterhin nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt – im Gegensatz zu Österreich.

Ein radikaler Neustart hätte es werden sollen. Spahn schlug eine „doppelte Widerspruchslösung“ bei Organspenden vor. Diese hätte vorgesehen, dass jeder, der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, potenzieller Organspender ist. Der Bedarf ist groß, schließlich warten in Deutschland derzeit über 9.000 Patienten und Patientinnen auf ein Spenderorgan. Demgegenüber stehen gerade einmal 932 Personen, die vergangenes Jahr nach ihrem Tod Organe für andere Patienten überlassen hatten.

„Es gibt keine Verfügung des Staates über den Körper, sondern eine Verpflichtung, sich zu entscheiden“, verteidigte Spahn seinen Entwurf vor Kritikern und Kritikerinnen. Doch sein Vorstoß wurde mit 379 zu 292 Stimmen abgelehnt. Stattdessen beschlossen die Abgeordneten einen gemeinsamen Entwurf der Grünen und Linken, der eine moderatere Reform vorsieht.

Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn
Reuters/Michele Tantussi
Spahn schlug eine „Widerspruchslösung“ vor, mit der jeder zum Spender geworden wäre, der nicht ausdrücklich widerspricht

In diesem heißt es: „Bei allen Maßnahmen zur Erhöhung der Organspenden nach dem Tod muss diese als eine bewusste und freiwillige Entscheidung beibehalten werden, die nicht durch den Staat erzwungen werden darf.“ Bürger und Bürgerinnen sollen daher in Zukunft lediglich stärker zu einer konkreten Entscheidung über Organspenden bewegt werden und sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen.

Generell positive Einstellung

Die Neuregelung sieht vor, dass die Menschen bei Behördengängen und Arztbesuchen intensiver als bisher auf die Möglichkeit zur Organspende hingewiesen und so zu einer Entscheidung ermuntert werden. Wer etwa einen Personalausweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf dem Amt Informationsmaterial bekommen. Beim Abholen eines Ausweises soll man sich dann dort oder auch später zu Hause in ein neues Onlineregister eintragen können – mit Ja oder Nein.

Widerspruchs- vs. Entscheidungslösung

Bei der Widerspruchslösung ist jeder hirntote Verstorbene – der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat – automatisch Organspender. Die Entscheidungsregelung hingegen sieht vor, dass nur derjenige Organspender sein kann, der zu Lebzeiten explizit eingewilligt hat.

Laut einer Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) besitzen derzeit nur etwa 40 Prozent der Deutschen einen Spenderausweis, auf dem man Ja oder Nein ankreuzen kann. Dabei hätten 84 Prozent generell eine positive Einstellung zu Organspenden. Laut einer ZDF-Umfrage sprachen sich vor der Abstimmung sogar 61 Prozent der Befragten für eine Widerspruchslösung aus.

„Wem gehört der Mensch?“

Der Abstimmung war eine emotionale Debatte im Bundestag vorausgegangen – Audio dazu in oe1.ORF.at. Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock warb dafür, jedem Bürger und jeder Bürgerin die Entscheidung zur Organspende selbst zu überlassen: „Wir stimmen hier heute über eine hochethische Frage ab, nämlich: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben?“, sagte Baerbock. Und weiter: „Wir stimmen aber auch darüber ab: Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft, er gehört sich selbst.“

Deutscher Organspenderausweis
Reuters/Fabrizio Bensch
Nur 40 Prozent aller Deutschen besitzen derzeit einen Organspendeausweis

Auch der deutsche Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock sprach sich in der „Zeit“ gegen die Widerspruchslösung aus. Er argumentiert mit der informierten Einwilligung. Diese besagt, dass ein ärztlicher Eingriff immer die Zustimmung des Patienten braucht. Dass „ausgerechnet bei einer derart persönlichen Frage wie der Organspende“ dieser Grundsatz nicht mehr gelten solle, könne nicht sein, so Dabrock. Denn Schweigen dürfe niemals als Zustimmung gelten.

„Rettet Menschenleben“

Anders sieht das die europäische Ethikratsvorsitzende Christiane Woopen. Selbstbestimmung könne sich auch durch Unterlassen äußern. Und der Gesetzgeber dürfe festlegen, dass Schweigen Zustimmen bedeute – jedoch nur, „wenn er sicherstellt, dass alle Bürger darüber informiert sind, was dieses Schweigen bedeutet“, so Woopen in der „Zeit“.

Spahn sprach von der Widerspruchsregelung als ohnehin nur „kleine Einschränkung der individuellen Freiheit“ – schließlich könne man sich jederzeit ohne Angaben von Gründen dagegen entscheiden. Und fügte hinzu: „Ja, es ist eine Zumutung. Aber eine, die Menschenleben rettet.“ Dennoch gehe es hier nicht um richtig oder falsch, sondern darum, Menschen in Not zu helfen, schrieb er auf Twitter.

Alle Österreicher automatisch Spender

Befürworter der Widerspruchslösung verweisen etwa auf Spanien, das auf viel höhere Spenderzahlen kommt. In insgesamt 20 EU-Ländern gilt die Widerspruchslösung – ebenso hierzulande. Österreich nimmt im internationalen Vergleich bei den Organtransplantationen eine Position in den vordersten Rängen ein.

Nach Spanien mit 113 Organtransplantationen pro Million Einwohner folgen Belgien (95) und Frankreich (94). Dann kommt schon Österreich mit 90 solcher Operationen pro Million Einwohner. In Deutschland sind es mit 45,1 Transplantationen pro Million Einwohner nur etwa die Hälfte, so der „Transplant-Jahresbericht 2018“ der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG).

Eintragung in das Widerspruchsregister

Wer hierzulande eine Organspende ausdrücklich ablehnt, kann dies schriftlich tun, etwa mit einem mitgeführtem Zettel, oder mündlich bezeugt durch Angehörige. Experten und Expertinnen raten, die Angehörigen früh genug zu informieren, damit diese wissen, wie im Ernstfall zu entscheiden ist. „Höchste Rechtssicherheit“ biete die Eintragung des Widerspruchs in das Widerspruchsregister, ist auf der Website oesterreich.gv.at zu lesen. Im Gesetz ist zudem geregelt, dass Organe nur freiwillig und unentgeltlich gespendet werden dürfen.

„Höhere“ Wahrscheinlichkeit, Empfänger zu werden

Im Widerspruchsregister seien jedoch gerade einmal 0,5 Prozent der Bevölkerung eingetragen, daher sei davon auszugehen, dass viele diese Regelung nicht kennen, so der Transplantationsmediziner Stephan Eschertzhuber gegenüber der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“). Auf die Frage, ob nicht der Staat die Pflicht habe, die Menschen darüber zu informieren, antwortete er: „Hat der Staat nicht vielmehr die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die auf Organe angewiesen sind, diese auch erhalten?“

Er verwies zudem auf die Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst im Leben einmal ein Organ benötige, viermal höher sei als die Wahrscheinlichkeit, selbst Spender zu werden. Wer sich dafür beziehungsweise nicht dagegen entscheide, könne vier bis fünf Menschen retten.