Frau hält eine Flagge während einer Demonstration gegen den Brexit vor dem Gebäude des EU-Parlaments.
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Der Anfang vom Ende

Briten sagen Brüssel „Goodbye“

Während die einen gehofft haben, der Tag würde niemals kommen, können ihn die anderen kaum erwarten. Nach dreieinhalb Jahren Hoffen und Bangen ist es jedenfalls so weit: Großbritannien verlässt am Freitag die EU. Für die Abgeordneten und Hunderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißt das Abschiednehmen. Mittwochabend wird im EU-Parlament ein letztes Mal abgestimmt.

Das gilt als letzte rechtliche Hürde vor Inkrafttreten von Artikel 50, also dem Austritt von Großbritannien aus der EU. Mit Überraschungen ist dabei aber nicht mehr zu rechnen. Mittwochfrüh hinterlegte die britische Regierung ihre Ratifizierungsurkunde zum Brexit. Der Botschafter Großbritanniens bei der EU, Tim Barrow, übergab das Dokument im Rat der Mitgliedsstaaten.

Eine offizielle Zeremonie vonseiten der EU-Institutionen ist nicht geplant. Hinter den Kulissen sieht das anders aus, einiges muss noch erledigt werden. So haben Wartungspersonen die britischen Flaggen zu entfernen – allerdings außerhalb der Bürozeiten und ohne Beisein von Kameras, wie bekanntgegeben wurde. Eine der britischen Flaggen soll ihren Weg in das Haus der europäischen Geschichte, ein Museum in Brüssel, finden. Daneben werden Hunderte Websites aktualisiert – so wird Großbritannien auf EU-Karten etwa nicht mehr blau, wie die anderen Mitgliedsstaaten eingefärbelt sein, sondern grau, wie die Schweiz und Norwegen.

Trauer bei Labour-Partei

Bis zum 7. Februar haben die EU-Abgeordneten dann noch Zeit, ihre Büros im Parlament zu räumen. Die Stimmung ist dort dem Vernehmen nach gedämpft. Viele, vor allem Gegnerinnen und Gegner des Brexits, wollen keine Interviews mehr geben. Ein Mitarbeiter eines britischen Abgeordneten bat etwa bei Medien in Brüssel um Diskretion: Das Team wolle auf gar keinen Fall beim Packen gefilmt werden. Es seien private, emotionale Momente.

Richard Corbett
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Corbett beschreibt gegenüber ORF.at seine nervenzehrenden letzten Tage in Brüssel

Der britische Labour-Abgeordnete Richard Corbett zeigte sich gegenüber ORF.at „extrem traurig“ über das Abschiednehmen. „Allen Kollegen und Freunden, mit denen ich gearbeitet habe, Auf Wiedersehen zu sagen, meine Ordner zusammenzupacken, das Büro zuzusperren und meinen Mitarbeitern zu helfen, neue Jobs zu finden – all das sind Aufgaben, die nicht angenehm sind, aber vor dem 31. Jänner erledigt werden müssen“, sagte Corbett.

Zwar könne er nur für die Sozialdemokraten im EU-Parlament sprechen, doch seien dort alle Abgeordneten traurig, „dass sie uns gehen lassen müssen“. „Wir teilen schöne Erinnerungen an die Zusammenarbeit, an die wir glauben, über Werte, die wir verteidigen, und an EU-Gesetze, die wir zusammen erwirkt haben“, so der EU-Abgeordnete. „Jedoch bin ich sicher, dass die meisten Abgeordneten froh sind, Brexit-Befürwortern wie Nigel Farage (von der Brexit-Partei, Anm.) den Rücken zukehren zu können.“

„Brexit ist scheiße, aber lasst uns trotzdem feiern“

Während Corbett nicht zum Feiern zumute ist, kündigte sein Kollege Magid Magid von den Grünen auf Facebook eine Feier auf dem Brüsseler Place du Luxembourg direkt vor dem EU-Parlament an. Zwar wird dort jeden Donnerstag je nach Wetterlage gefeiert, Magid aber rief für den Abend vor dem Brexit zur „Brexit’s shit, but let’s party anyway“-Party auf („Brexit ist scheiße, aber lasst uns trotzdem feiern“). Er warte noch auf die offizielle Zusage der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, so der oft zu Scherzen aufgelegte Abgeordnete in seiner Einladung.

Magid Magid Mitglied der britischen „Green Party“
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Magids Markenzeichen ist eine gelbe Baseballkappe, die er verkehrt herum trägt – auch im EU-Parlament

Die „Brexit-Opfer“ soll man bei der Party durch „Ampelsticker“ erkennen können. Rot stehe dabei für „hat bereits Job und EU-Pass erhalten“, Orange für „derzeit okay, aber offen für Angebote“ und Grün für „auf der Suche nach Scheinehe/Adoption/Arbeit“. Für „gute Stimmung und Brit-Rock“ und ein „DJ-Set von Berlusconi“ (EU-Abgeordneter Silvio, Anm.) sei ebenso gesorgt. Ob diese Ankündigungen genau so eintreten werden wie in der Einladung beschrieben, bleibt abzuwarten. Magid nimmt sich jedenfalls nur selten ein Blatt vor den Mund, er ist entschlossener Brexit-Gegner.

Den Britinnen und Briten Lebewohl sagen will auch die Stadt Brüssel. Auf dem Grand-Place in der Innenstadt ist eine Lichtershow geplant, im Rathaus will Bürgermeister Philippe Close einen Empfang mit britischen Beamtinnen und Beamten abhalten. In der Auferstehungskapelle des EU-Viertels kündigte die Kirchengemeinde eine Messe an: „Komm für Weisheit und Vision für die Zukunft“, heißt es auf der Facebook-Seite der Pfarre. Es sei an der Zeit, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu begehen.

„Wir lieben Europa, aber wir hassen die EU“

Weitaus weniger andächtig sehen den britischen Abgang die „Brexiteers“, also die Befürworterinnen und Befürworter des Brexits. Abgeordneter Nathan Gill von der Brexit-Partei sagte etwa kürzlich vor Medien, er freue sich darauf, Brüssel verlassen zu können. „Denn das heißt, dass wir politisch erfolgreich waren“, so Gill. Der Austritt Großbritanniens aus der EU sei schließlich der Grund gewesen, warum er überhaupt in die Politik gegangen sei.

Das viele Reisen, die Menschen und die Erfahrungen werde aber auch er vermissen, so der EU-Abgeordnete. Mitgefühl empfinde er gegenüber jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die einen neuen Job finden müssen. Einige von ihnen dürften dem Vernehmen nach in britischen Behörden, Instituten und Vertretungen in Brüssel unterkommen. EU-Insiderinformationen zufolge wird die Vertretung Großbritanniens in Brüssel sogar an Personal aufstocken.

Der Chef der britischen Brexit-Partei, Farage, ist vom Brexit als seinem persönlichen Erfolg überzeugt. „Es gibt nur sehr wenige Menschen im Leben, vor allem in der Politik, die ihren Traum vollenden, und in vieler Hinsicht ist mir das gelungen“, so Farage bei einer Pressekonferenz in Brüssel. Er habe verstanden, „dass das europäische Projekt nichts für uns ist“. „Wir lieben Europa, aber wir hassen die Europäische Union“, sagte Farage weiter.

Leistungen für Ex-Abgeordnete

Obwohl die britischen Abgeordneten ihre Plätze räumen müssen, bleiben einige ihrer Privilegien trotzdem noch eine Weile aufrecht. Drei Monate lang dürfen sie noch die Hälfte der „Allgemeinen Aufwandsentschädigung“ beziehen. Dabei handelt es sich um 50 Prozent jener 4.416 Euro pro Monat, die jedem und jeder EU-Abgeordneten für Büroausgaben zustehen. Dass EU-Parlamentarier und -Parlamentarierinnen dafür generell keinen Nachweis erbringen müssen, löst häufig kontroverse Diskussionen aus.

Anti-Brexit Aktivist Steve Bray demonstriert zusammen mit Mitgliedern des Eu Parlaments in Brüssel.
Reuters/Yves Herman
Oftmals protestierten auch Abgeordnete vor dem EU-Parlament – aus heutiger Sicht vergeblich

Zusätzlich dazu können die Abgeordneten eine „Übergangszulage“ von 8.611,31 Euro brutto pro Monat noch für bis zu zwei Jahre in Anspruch nehmen, abhängig von der Länge ihrer Dienstzeit. Diese Zuwendungen sind allerdings keine, die lediglich den britischen Abgeordneten zugutekommen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Paket, das gesetzlich etwa auch jenen Abgeordneten zusteht, die abgewählt werden.

Überdies bleibt den britischen Abgeordneten der Zugang zum EU-Parlament gewährt – allerdings in Form eines „Ausweises für ehemalige Abgeordnete“. Damit dürfen sie nur noch während der Öffnungszeiten das Gebäude betreten. Auf ihr E-Mail-Konto dürfen die Britinnen und Briten im EU-Parlament noch für drei weitere Monate zugreifen, ebenso auf das Intranet. Von offiziellen Mailing-Listen werden sie aber ausgeschlossen, genauso wie von internen Datenbanken. Zu guter Letzt steht den Abgeordneten dann noch eine letzte bezahlte Rückreise in ihr Heimatland zu.

Abschied mit Nachspiel

Um sich das bürokratische Brexit-Prozedere zu überlegen, hatten die Verantwortlichen lange Zeit, denn das Austrittsreferendum liegt schon mehr als drei Jahre zurück. Wenn es aber um die künftige Zusammenarbeit zwischen den EU-27 und dem Vereinigten Königreich geht, dann wartet noch viel Arbeit. Zumindest bis zum Ende der Übergangsperiode am 31. Dezember dürften sich die Gespräche dazu ziehen. So sind beide Seiten an geordneten Verträgen interessiert.

Vor März ist mit offiziellen Post-Brexit-Verhandlungen jedoch nicht zu rechnen, da die EU-Kommission ihren 30-stufigen Prozess zur Vereinbarung der Ziele erst vor Weihnachten eingeleitet hatte. Diese sollen von den EU-27 erst bei einer Sitzung am 25. Februar unterzeichnet werden.

Grafik zu Optionen nach dem Brexit
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Österreicher bedauern Austritt

Lukas Mandl, ÖVP-Abgeordneter im EU-Parlament, bedauerte den Austritt Großbritanniens Mittwochfrüh in einer Pressekonferenz zum 25-jährigen EU-Jubiläum Österreichs, Schwedens und Finnlands. „Auf kurze Zeit müssen wir schauen, dass wir auch nach dem Brexit gute Beziehungen zu Großbritannien pflegen“, so Mandl und fügt hinzu: „Auf lange Sicht muss Großbritannien wieder ein Mitgliedsstaat der EU werden.“

An die Frist der Übergangsperiode, die mit 31. Dezember abläuft, glaubt Mandl nicht. „Nein“, antwortete er schlicht auf die Frage von ORF.at, ob das Datum wirklich fix sei. Zwar müsse die EU alles tun, damit der Zeitrahmen eingehalten werden könne, dass Verträge ausgehandelt würden, jedoch hätten die letzten Jahre gezeigt, dass der erste Termin in Sachen Brexit nicht unbedingt auch eingehalten werde, so Mandl.

Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer bedauerte den Brexit in einer Aussendung ebenfalls, begrüßte aber das Ende der Unsicherheit für Betriebe. „Jetzt geht es darum, nach vorne zu schauen und eine möglichst enge Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auszuhandeln“, so Mahrer. Dabei gehe jedoch „Qualität vor Tempo“.

Schieder: „Historischer Fehler“

„Der Brexit ist ein historischer Fehler", zeigte sich Andreas Schieder, SPÖ-Abgeordneter im EU-Parlament, überzeugt: „Letztlich gilt aber wie bei jeder Trennung: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Auch er sieht die Verhandlungen zu einem Handelsabkommen von größter Bedeutung, ergänzte aber auch, dass bei den künftigen Beziehungen „Qualität vor Quantität“ zähle.

Monika Vana, grüne Abgeordnete im Europaparlament, bemerkte ebenfalls die vielen offenen Fragen in Sachen Handelspolitik. „Auf diese schwierigen Fragen müssen wir in den nächsten elf Monaten Antworten finden“, so Vana gegenüber ORF.at. „Trotz Brexit fühlen wir Grünen uns tief mit den Britinnen und Briten verbunden und werden diese Freundschaften weiter pflegen.“

Grenze zu Irland weiterhin Streitpunkt

Während der Übergangsphase bleibt Großbritannien noch im Binnenmarkt und in der Zollunion. In dieser Zeit soll in erster Linie ein Freihandelsabkommen ausgehandelt werden. Der umstrittenste Part des Brexit-Deals bleibt dabei die Grenze zwischen Irland und Nordirland. Ob es dabei zu Zollkontrollen kommen wird, ist nach wie vor unklar, auch wenn der britische Premier Boris Johnson diese ausgeschlossen hatte.

Der EU-Brexit-Chefverhandler Michel Barnier meinte jedoch, sie seien „unverzichtbar“. Weiters geht es um ein Abkommen zur Hochseefischerei, um den Personenverkehr, Dienstleistungen, Finanzgeschäfte sowie Daten- und Investitionsschutz. Ein harter Brexit, also ein Brexit ohne Abkommen, ist aber nach wie vor nicht vom Tisch.

Ende der Woche wollen Kommissionspräsidentin von der Leyen, EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli dann ein gemeinsames Statement herausgeben. Freitagabend werden sie im Haus von Jean Monnet verbringen, um auf einem „Retreat“ über die Zukunft Europas zu sprechen. Der Ort des Geschehens scheint nicht zufällig gewählt, Monnet gilt als einer der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft.