Ein Hut hängt vor der britischen Flagge
AP/Francisco Seco
Brexit

Der letzte Tag und seine Folgen

Am Freitag ist zum ersten Mal ein Staat aus der Europäischen Union ausgeschieden. Trotz Brexit-Abkommens und dreieinhalbjähriger Vorbereitungszeit ist bei Weitem nicht alles geklärt. Was also passiert nun konkret nach dem vollzogenen Ausstieg?

Der Brexit-Ball wurde am Freitag in Brüssel flach gehalten. Hie und da spielte zum Abschied noch ein Dudelsack auf, die eine oder andere britische Flagge wurde noch entfernt, und am Nachmittag fand eine Messe zu Ehren der Britinnen und Briten in der Auferstehungskapelle im EU-Viertel statt. Für die meisten Europäerinnen und Europäer bedeutet der Austritt Großbritanniens aus der EU also zunächst einmal gar nichts. Das bestätigte auch die EU-Kommission.

Das sichert nämlich das rechtlich bindende Austrittsabkommen, das eine Übergangsfrist beinhaltet, die am Samstag beginnt und bis 31. Dezember andauert. „Bis zu diesem Zeitpunkt ergeben sich für die Bürgerinnen und Bürger, Verbraucher, Unternehmen, Investoren, Studenten und Forscher in der EU und im Vereinigten Königreich keine Änderungen“, hieß es von der Kommission.

Alles wie immer?

Für den Alltag bedeutet das beispielsweise, dass sowohl Britinnen und Briten als auch EU-Bürgerinnen und -Bürger geschäftlich und privat reisen können wie bisher. Es ist weder Visum noch Einreiseerlaubnis nötig. Ihre grenzüberschreitende Gültigkeit behalten auch Tierreisepässe und Führerscheine. Auf den Flughäfen bleibt innerhalb der Übergangsperiode also alles wie gehabt, ebenso auf Bahnhöfen und Straßen. Roaminggebühren bei der Handynutzung fallen nicht an. Für den Postversand, etwa wenn Produkte aus dem Internet bestellt werden, wird es unmittelbar keine Konsequenzen oder zusätzliche Kosten geben.

Die Mannekin Pis Statue in Brüssel trägt ein britisches Hemd
APA/AFP/Kenzo Tribouillard
Mannekin Pis, das Brüsseler Wahrzeichen, wurde als britischer Dandy verkleidet

Wer befürchtet, dass ein Großbritannien-Urlaub in nächster Zeit teurer wird als bisher, der kann beruhigt sein. Beobachterinnen und Beobachter rechnen eher mit dem umgekehrten Fall, da das britische Pfund unter den Brexit-Verhandlungen gelitten hat. Seit dem Referendum im Juni 2016 ist der Kurs im Vergleich zum Euro um rund zehn Prozent gefallen. Doch zählen Städte wie London sowieso zu den teuersten in Europa.

Registrierungspflicht für EU-Bürger in Großbritannien

Auch für die rund 3,2 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in Großbritannien wohnen, arbeiten und studieren, wird sich innerhalb der Übergangsfrist nichts ändern. Selbiges gilt auch für 1,2 Millionen Britinnen und Briten in den EU-Ländern. Selbst über die Übergangsperiode hinaus sichert jenen Menschen der Austrittsvertrag außerdem zu, dass sie und ihre engsten Angehörigen keine Änderungen zu befürchten haben. Das schließt auch Leistungen wie Pensionen und Gesundheitsfürsorge mit ein. In der Tat ist das sogar ein Kernstück des Abkommens.

Jedoch müssen sich EU-Bürgerinnen und -Bürger bis Ende des Jahres in Großbritannien als wohnhaft registrieren lassen, sonst könnten sie ihr Aufenthaltsrecht verlieren. Diese generelle Meldepflicht gilt freilich auch in vielen EU-Staaten. Fraglich ist, inwiefern jene Menschen zum Streitpunkt werden, die noch innerhalb der Übergangsfrist umziehen. Rechtlich dürfen sie das jedenfalls aufgrund der Regeln des Binnenmarkts und der Freizügigkeit.

Kräfteverhältnis im EU-Parlament ändert sich

Rechtlich gesehen ist Großbritannien nun zwar ein Drittstaat, jedoch muss es wie jedes EU-Land auch in den EU-Haushalt einzahlen – bis zum 31. Dezember. Umgekehrt fließt Geld von der EU auch weiterhin nach Großbritannien. Doch mitreden dürfen die Britinnen und Briten innerhalb der Union nicht mehr. Es gibt keine britische Vertretung mehr in der EU-Kommission, bei Ministerräten, bei EU-Gipfeln und im EU-Parlament. Aufgrund des Abgangs von 73 britischen Abgeordneten ändert sich die Sitzverteilung im europäischen Parlament. Dafür ziehen 27 neue Abgeordnete aus insgesamt 14 Mitgliedsstaaten ein, die bisher gemessen an der Bevölkerung zu schwach vertreten waren. Das Parlament wird außerdem von 751 auf 705 Sitze verkleinert.

Eine Anti-Brexit Befürworterin
AP/Kirsty Wigglesworth
Auch auf den letzten Metern geben die Brexit-Gegner und -Gegnerinnen in Großbritannien nicht auf. Sie demonstrieren weiter.

Dadurch verändert sich auch das Kräfteverhältnis. Die Europäische Volkspartei (EVP) erhält insgesamt durch den Abgang der Britinnen und Briten fünf Mandate mehr, auch die Rechtsextremen legen um drei zu und sind nun vor den Grünen die viertgrößte Fraktion. Die Sozialdemokraten verlieren summa summarum sechs Sitze. Die Fraktion der Liberalen schrumpft um elf, die Grünen verlieren insgesamt sieben Mandate. Die österreichischen Grünen gewinnen aber ein Mandat im EU-Parlament dazu, das von Thomas Waitz besetzt wird.

Briten können weiter in Kommission arbeiten

Glück haben allerdings die rund 700 britischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU-Kommission. Sie dürfen bleiben und werden von der Bestimmung, welche die EU-Staatsbürgerschaft zur Voraussetzung für eine Beschäftigung macht, ausgenommen. Das entspreche einer Entscheidung der früheren Kommission von Jean-Claude Juncker, die bis auf in besonderen Fällen Gültigkeit habe, hieß es am Freitag in Brüssel. Zu diesen gehören Interessenkonflikte und „internationale Verpflichtungen“.

Darüber hinaus verliert die EU durch den Brexit jedoch eine bedeutende Atommacht sowie ein ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Freilich bleibt Großbritannien auch nach der Scheidung auf seinen internationalen Positionen – jedoch eben nicht mehr als gewichtiges EU-Mitglied. Durch den Brexit ändert sich übrigens auch die Bevölkerungszahl der EU. Wo man bisher von rund 512 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sprach, bleiben jetzt nur 446 Millionen übrig.

Wichtige Fragen vertagt

Richtig spannend dürfte es dann aber erst mit Ende des Jahres werden. So sind sämtliche Fragen mit 1. Jänner 2021 völlig offen: Wird es künftig Zölle geben? Inwiefern werden Waren an den Grenzen kontrolliert? Wie viel Fisch darf in den Gewässern des jeweils anderen gefischt werden? Brauchen Reisende ein Visum? Wie lange dürfen sie sich aufhalten? Dürfen EU-Bürgerinnen und -Bürger in Großbritannien arbeiten und umgekehrt? Wird ein Studierendenaustausch noch möglich sein? Dürfen Daten weitergegeben werden, insbesondere im Sicherheitsbereich?

Eine Anti-Brexit Befürworterin
AP/Kirsty Wigglesworth
Mit einem Baguette in der Hand, das Frankreich symbolisiert, protestiert eine Britin gegen die „Brexit-Lüge“

Proeuropäische Expertinnen und -Experten sind sich einig, dass ein Brexit, der diese und unzählige weitere Fragen nicht geklärt hat, katastrophale Auswirkungen hätte. Doch erfordert ihre Beantwortung noch viel Arbeit. „Ein neues Verhältnis auszuhandeln zwischen dem Vereinigten Königreich und den EU-27 wird mindestens genauso komplex, wie das Scheidungsverfahren an sich schon komplex war“, lautete etwa die Einschätzung des EU-Experten Janis Emmanouilidis vom European Policy Center (EPC) in Brüssel. „Vieles ist noch nicht absehbar, viele Stolpersteine liegen auf dem Weg.“ Es sei sehr schwierig, überhaupt Prognosen abzugeben, so Emmanouilidis zu ORF.at.

EuGH hat im Streitfall Entscheidungsmacht

Einzig die Grenze zwischen Nordirland und Irland gilt als geregelt – wenn auch einige dennoch ein Wiederaufflammen der Gewalt befürchten. Freier Personen- und Warenverkehr in der EU, zwischen der britischen Provinz im Norden Irlands und der Republik Irland, trugen dort zum Frieden bei. Doch ist bereits im verabschiedeten 500 Seiten starken Brexit-Vertrag festgelegt, dass in Nordirland in jedem Fall einige Regeln des EU-Binnenmarkts und besondere Zollregeln gelten.

Prinzipiell entscheidet im Streitfall über die Austrittsvereinbarungen ein Schiedsgremium, dessen Beschlüsse bindend sind. Dieses kann den Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf den Plan rufen und bei Verstößen Geldbußen verhängen. Hält sich eine Seite nicht an den Schiedsspruch, kann die andere gegebenenfalls Teile des Austrittsabkommens aussetzen.

Handelsabkommen als oberste Priorität

Für die Zeit nach der Übergangsfrist rechnen Wirtschaftsexpertinnen und -experten damit, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU von 15,3 Billionen Euro im Jahr 2018 um etwa 15 Prozent schrumpfen wird. Da Großbritannien einer der wichtigsten Beitragszahler war, werden ab 2021 dem EU-Haushalt im Jahr bis zu 14 Milliarden Euro fehlen.

Um das Chaos nach Jahresende möglichst gering zu halten, hat für beide Seiten das Aushandeln eines Handelsabkommens oberste Priorität. So sollen Zölle, Kontingente und Dumping vermieden werden. Die EU will dabei hart bleiben, was den britischen Zugang zum Binnenmarkt anlangt: Großbritannien müsse gemeinsame Standards einhalten – etwa im Umwelt-, Steuer-, Sozial- und Qualitätsbereich von Waren. Die britische Regierung will jedoch keine Zugeständnisse machen – schließlich waren genau diese Themen von Beginn an Grund für die Brexit-Idee.

Brexit leicht verständlich

Der ORF-Teletext bietet zum Austritt Großbritanniens aus der EU eine Brexit-Spezial-Ausgabe in Leichter Sprache. Ab Seite 570 und 580 und auch online werden die Geschehnisse der vergangenen Jahre in den Sprachstufen B1 und A2 leicht verständlich und übersichtlich erklärt. Die Meldungen sind dabei in kurzen Sätzen verfasst, auf schwierige Wörter wird nach Möglichkeit verzichtet, oder diese werden in einer Ergänzung erklärt – die Meldungen dazu in teletext.ORF.at (B1) und in teletext.ORF.at (A2).

Ehrgeiziger Zeitplan

Schon am Montag will die EU-Kommission einen Vorschlag machen, wie die EU in ihren Verhandlungen vorgehen soll. Die EU-27 sollen das am 25. Februar billigen. Erst dann ist mit einem Start der Verhandlungen zu rechnen. Ein Stichtag ist dann der 1. Juli, bis dahin haben sich die Verhandlungspartner etwa das Ziel gesteckt, ein Abkommen zur Fischerei auf den Tisch gelegt zu haben.

Außerdem ist das jenes Datum, bis zu dem entschieden werden muss, ob es zu einer Verlängerung der Übergangsperiode kommen soll. Der Zeitrahmen kann einmalig um ein oder zwei Jahre verlängert werden. Während der britische Premier Boris Johnson das ausschloss, gehen einige Vertreterinnen und Vertreter der EU vom Gegenteil aus und rechnen nur mit einem oberflächlichen Abkommen bis zum 31. Dezember. Ob der ehrgeizige Zeitplan also eingehalten werden kann, gilt als äußerst ungewiss.