Thomas Kemmerich von der FDP.
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AfD als Königsmacher

Empörung über Politbeben in Thüringen

Nach der Wahl des Ministerpräsidenten Thüringens steht kein Stein mehr auf dem anderen. Die FDP, die bei der Landtagswahl im Herbst nur knapp die Hürde für den Einzug übersprungen hatte, stellt nun den Ministerpräsidenten. Möglich machten das nur die Stimmen der rechtspopulistischen AfD. Nun droht eine Blockade, die Bundes-CDU empfahl ihren Kollegen sogar eine Neuwahl.

Nur eine Stimme Mehrheit verhalf am Mittwoch im Erfurter Landtag Thomas Kemmerich (FDP) zu seinem Posten als neuer Ministerpräsident Thüringens. Seine Partei hatte fünf Prozent bei der Landtagswahl erhalten. Dennoch fegte Kemmerich den bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) aus dem Amt – eine landespolitische Begebenheit, die selbst die Große Koalition in Berlin in eine Krise stürzen könnte.

Kemmerich wurde erst im dritten Wahlgang gewählt, er war auch erst im dritten Wahlgang als Kandidat aufgestellt worden. Ramelow hatte damit gerechnet, seine bisherige Koalition in Thüringen aus Linker, SPD und Grünen als Minderheitsregierung fortsetzen zu können. Sogar ein Koalitionsvertrag war bereits unterschrieben. Doch CDU und FDP hatten mit Hilfe der Stimmen der AfD von Landesparteichef Björn Höcke eine Mehrheit gegen Ramelow zusammengebracht. Die Abstimmung war geheim, doch der Kandidat der AfD, Christoph Kindervater, erhielt im dritten Wahlgang keine einzige Stimme. Höcke ist Gründer des rechtsnationalen „Flügels“ der AfD, der vom deutschen Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wird.

Blumenstrauß als Zeichen des Protests

SPD und Linke warfen Union und FDP sofort einen „unverzeihlichen“ Dammbruch vor. „Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache“, schrieb Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Eine Zusammenarbeit mit Höckes AfD sei für die SPD „absolut unakzeptabel“. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans schrieb auf Twitter: „Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte. Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.“

Bjoern Hoeckevon von der AfD gratuliert Thomas Kemmerich.
Reuters/Hannibal Hanschke
Höcke gratuliert Kemmerich: Eine überraschende Allianz

Die Chefin der Bundesgrünen, Annalena Baerbock, forderte Kemmerich zum umgehenden Rücktritt auf. Tue er das nicht, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. Die Fraktionschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, ließ ihrer Enttäuschung im Landtag freien Lauf. Direkt nach Kemmerichs Vereidigung ging sie als Erste zu ihm, warf ihm die für Ramelow gedachten Blumen vor die Füße, deutete eine Verneigung an und ging.

Linke-Fraktionschefin schmiss Kemmerich Blumenstrauß vor die Füße

Nach der Vereidigung von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen hat die Fraktionschefin der Linken ihre Enttäuschung mit einem fliegenden Blumenstrauß zum Ausdruck gebracht.

Nach Auffassung des Internationalen Auschwitz Komitees sendet die Wahl ein „fatales Signal“ an die Überlebenden des Holocausts. „In Thüringen macht Herr Höcke die Regierung“, so Vizepräsident Christoph Heubner. „Dass es gerade dieser rechtsextremen Höcke-AfD so leicht gelungen ist, die demokratischen Parteien als konsensunfähig vorzuführen, ist ein politisches Desaster mit weitreichenden Folgen.“

Ramelow erinnert an 1930

Der abgewählte Ramelow bezeichnete die Wahl Kemmerichs als „widerliche Scharade“. Ramelow sprach laut mehreren Zeitungen von einem „deutschen Tabubruch“ und fügte hinzu: „Genau 90 Jahre nachdem es in Thüringen schon mal passiert ist: Sich von Herrn Höcke und dem Flügel wählen zu lassen – das war offenbar gut vorbereitet.“ In Thüringen war im Jahr 1930 die NSDAP erstmals in eine Landesregierung gekommen.

Bei der CDU äußerte sich der Thüringer Parteichef Mike Mohring. Er wies die Verantwortung von sich: Seine Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den „Kandidaten der Mitte“ gewählt. „Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien“, sagte Mohring, der auch bestätigte, dass seine Fraktion im dritten Wahlgang Kemmerich unterstützt habe. Dieser müsse nun klarmachen, dass es keine Koalition mit der AfD und eine klare Abgrenzung nach rechts gebe.

Bundes-CDU empfiehlt Neuwahl

Eine Koalitionsbildung dürfte nun schwierig werden. Die FDP schaffte es am Mittwoch nach der Überraschung zunächst nicht, eine neue Regierung zu präsentieren. Die für Mittwoch angekündigte Ernennung der Minister wurde verschoben. Die Thüringer CDU bot Kemmerich eine Zusammenarbeit an, doch SPD, Grüne und Linke erklärten, nicht mit der FDP regieren zu wollen. Seine Fraktion wähle die Rolle der Opposition, betonte auch Grünen-Fraktionschef Dirk Adams.

Das Präsidium der Bundes-CDU empfahl einstimmig eine Neuwahl in Thüringen, teilte Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer am Mittwochabend mit. Zuvor hatte sie ihren Parteikollegen in Thüringen bereits vorgeworfen, bei der Wahl des neuen Ministerpräsidenten gegen die Beschlusslage der Partei verstoßen zu haben. Die Thüringer CDU-Fraktion sprach sich aber schon gegen eine Neuwahl aus. „Wir sehen unsere Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden“, erklärte ein Sprecher der Fraktion am Mittwoch.

Zuvor hatten schon CSU-Chef Markus Söder und CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak für eine Neuwahl plädiert. Sogar FDP-Chef Christian Lindner schloss eine Neuwahl nicht aus – sein Parteikollege Kemmerich tat das hingegen schon. Das sei keine Option, sagte er. „Die Arbeit beginnt erst.“ Eine jüngste Umfrage habe gezeigt, dass das Ergebnis ein ähnliches sein würde wie bei der Landtagswahl. „Insofern sollten die Demokraten Neuwahlen vermeiden und im Parlament Zusammenarbeit suchen“, sagte der neue Ministerpräsident.

Protest vor dem Landtag

Vor dem Landtag in Erfurt versammelten sich am Mittwoch spontan Demonstranten. Unter ihnen waren auch rot-rot-grüne Landtagsabgeordnete und Fraktionsmitarbeiter. Mit Trillerpfeifen und auf Plakaten äußerten sie ihren Unmut über den Wahlausgang und ihre Sorge vor einem weiteren Erstarken der extremen Rechten in Thüringen. Auch vor den Parteizentralen von FDP und CDU in Berlin protestierten Demonstranten.

Menschen demonstrieren gegen das Wahlergebnis in Thüringen.
APA/AFP/Jens Schlueter
In Thüringen wurde gegen die Wahl Kemmerichs protestiert

Bei der AfD war die Freude groß. Fraktionschef Höcke sagte, seine Partei sei angetreten, den bisherigen Ministerpräsidenten und Linke-Politiker Ramelow in den Ruhestand zu schicken. „Deswegen haben wir die Wahl heute so getätigt, wie wir sie getätigt haben“, sagte Höcke. Alice Weidel, AfD-Fraktionschefin im Bundestag, schrieb auf Twitter: „Rot-Rot-Grün in Thüringen hat schon jetzt fertig! Gratulation an Ministerpräsident Thomas L. Kemmerich. An der AfD führt kein Weg mehr vorbei!“

Die AfD will die Wahl auch als bundesweiten Fingerzeig sehen. Höcke sprach von einem „Neustart der Thüringer Politik“. Er hoffe, dass davon aber auch ein Signal ausgehe, das bundesweit beachtet werde.

Sitzverteilung im Landtag (Tortengrafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

CDU-Chefin versucht Schadensbegrenzung

Auswirkungen auf Berlin könnte das Thüringer Ergebnis schnell haben. Die Bundes-SPD machte der CDU deswegen bereits Vorwürfe. Die Christdemokraten hätten Kemmerich mit Enthaltungen in den eigenen Reihen verhindern können. Mit dem Wahlverhalten trügen CDU und FDP Verantwortung für ein abgekartetes Spiel, kritisierte SPD-Chefin Saskia Esken. Es gebe „dringende Fragen an die CDU“, die zügig im Koalitionsausschuss geklärt werden müssten. Auch der frühere SPD-Vize Ralf Stegner sah die Große Koalition in Berlin belastet. „Wenn FDP-Chef Christian Lindner und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer diese Farce nicht sofort beenden, kann es kein Weiterso in der Großen Koalition geben“, sagte der SPD-Fraktionschef in Schleswig-Holstein dem „Spiegel“. „Wir können nicht mit einer Partei regieren, die mit Nazis kooperiert.“

CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer hatte schon am Nachmittag das Stimmverhalten der Thüringer CDU-Landtagsfraktion als falsch bezeichnet. Die Fraktion habe „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ gehandelt, sagte die Parteivorsitzende. Sie sei der Auffassung, „dass man darüber reden muss, ob neue Wahlen nicht der sauberste Weg aus dieser Situation sind“.