Deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel
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Thüringen

Kemmerich-Wahl für Merkel „unverzeihlich“

Die im deutschen Bundesland Thüringen durch die Stimmen der rechtspopulistischen AfD ermöglichte Wahl des FDP-Landeschefs Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten lässt in Deutschland weiter die Wogen hochgehen. Am Donnerstag meldete sich nun auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Wort und bezeichnete die Vorgänge in Thüringen, an denen auch die CDU beteiligt war, als „unverzeihlich“.

Das Ergebnis dieses Vorgangs müsse rückgängig gemacht werden, sagte die CDU-Politikerin bei einem Besuch in Südafrika und stellte sich damit indirekt hinter bereits am Mittwoch von vielen Seiten laut gewordene Neuwahlforderungen.

Merkel sprach von einem „schlechten Tag für die Demokratie“, an dem mit den Werten und den Überzeugungen der CDU gebrochen worden sei. Nun müsse alles getan werden, damit deutlich werde, dass das in keiner Weise mit dem in Übereinstimmung gebracht werden könne, was die CDU denke und tue. „Daran wird in den nächsten Tagen zu arbeiten sein.“ Neuwahlen seien laut Merkel „eine Option“ – wichtig sei jedoch zunächst, „dass die CDU sich an einer Regierung unter dem Ministerpräsidenten“ Kemmerich „nicht beteiligt“.

Thüringens FDP-Chef Kemmerich war am Mittwoch im Erfurter Landtag überraschend mit den Stimmen von Liberalen, CDU und AfD zum Regierungschef gewählt worden. Der Kandidat der FDP, die im Herbst mit fünf Prozent nur knapp den Sprung in den Landtag geschafft hatte, setzte sich gegen den bisherigen Regierungschef Bodo Ramelow von den Linken durch. Es war das erste Mal, dass die AfD einem Ministerpräsidenten ins Amt half.

Krisentreffen in Berlin

Die Reaktionen auf Kemmerichs Wahl kommen einem Politbeben gleich, die Wahl stürzte auch die Große Koalition in Berlin in eine neue Krise. Die SPD machte der CDU heftige Vorwürfe und verlangte ein Machtwort von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Diese ging mit der eigenen Fraktion im Thüringer Landtag hart ins Gericht und empfahl am Mittwoch eine Neuwahl.

Sitzverteilung im Landtag (Tortengrafik)
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Die CDU-Abgeordneten hätten ausdrücklich gegen den Willen der Bundespartei gehandelt, indem sie mit der AfD Kemmerich ins Amt halfen. Amtsinhaber Ramelow, der mit SPD und Grünen eine Minderheitsregierung bilden wollte, hatte im dritten Wahlgang mit einer Stimme verloren.

CDU und SPD im Bund verständigten sich am Mittwochabend auf ein rasches Krisentreffen, um die Konsequenzen zu beraten. Geht es nach CSU-Chef und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder brauche es „rasch Neuwahlen“. „Denn es ist besser nicht zu regieren als unmoralisch zu regieren“, wie Söder via Twitter mitteilte.

Grünes Licht von FDP-Chef Lindner?

In Thüringen forderten Linke, SPD und Grüne am Donnerstag Kemmerich zum Rücktritt auf. In einer gemeinsamen Erklärung verweisen die drei Parteien zwar auf eine Anfrage Kemmerichs, „eine Allparteienregierung ohne die AfD zu bilden“. Man sei aber nicht bereit, in ein von Kemmerich geleitetes Kabinett einzutreten, zitierte der MDR aus dem Schreiben, in dem der FDP-Politiker vielmehr aufgefordert wird, sich der Vertrauensfrage zu stellen.

Im Rampenlicht steht nach der Thüringen-Wahl schließlich auch der Chef der Bundes-FDP, Christian Lindner. Dieser will nach Angaben des „Tagesspiegels“ in Erfurt nun nach Lösungen suchen und Kemmerich zum Rücktritt bewegen. Ein mögliches Szenario sei das Stellen der Vertrauensfrage im Landtag, um den Weg für eine Neuwahl frei zu machen, wie der „Spiegel“ dazu berichtete.

Aufhorchen ließ in diesem Zusammenhang indes ein Bericht des „Business Insider“, wonach Lindner vorab gebilligt habe, Kemmerich auch mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Die FDP hat laut Mitteldeutschem Rundfunk (MDR) diese Angaben aber bereits dementiert.

Kramp-Karrenbauer will „Dammbruch“ nicht zulassen

Kramp-Karrenbauer sagte am Mittwoch im ZDF, sie habe neben der CDU in Thüringen auch FDP-Chef Lindner auf die Gefahr einer „AfD-Volte“ hingewiesen. Sie habe Lindner „herzlich gebeten“, keinen Kandidaten aufzustellen, so die CDU-Chefin. Aber auch er sei bei seinen Thüringer Parteifreunden nicht durchgedrungen.

Kolumnist Jörges zur Ministerpräsidentenwahl

Der bekannte „Stern“-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges kommentiert den Wahlausgang in Thüringen. Er spricht zudem über die Möglichkeiten für den neuen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich.

Auf die Frage, ob sie als Parteichefin nicht auch beschädigt sei, sagte Kramp-Karrenbauer: „Es geht nicht um mich. Es geht hier um die Glaubwürdigkeit der Christdemokratinnen und Christdemokraten.“ Aus ihrer Sicht gehe es nun auch um die Frage, „wie es mit dem politischen System in Deutschland weitergeht“. Sie werde jedenfalls nicht zulassen, dass es einen „Dammbruch“ mit Beteiligung der CDU gebe.

Blumenstrauß als Zeichen des Protests

SPD und Linke warfen der CDU und FDP indes bereits am Mittwoch offen einen „unverzeihlichen“ Dammbruch vor. „Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache“, schrieb Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Eine Zusammenarbeit mit der in Thüringen von Björn Höcke angeführten AfD sei für die SPD „absolut unakzeptabel“. SPD-Chef Walter-Borjans schrieb auf Twitter: „Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte. Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen.“

Bjoern Hoeckevon von der AfD gratuliert Thomas Kemmerich.
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Höcke gratuliert Kemmerich: Eine überraschende Allianz

Die Chefin der Bundesgrünen, Annalena Baerbock, forderte Kemmerich zum umgehenden Rücktritt auf. Tue er das nicht, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. Die Fraktionschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, ließ ihrer Enttäuschung im Landtag freien Lauf. Direkt nach Kemmerichs Vereidigung ging sie als Erste zu ihm, warf ihm die für Ramelow gedachten Blumen vor die Füße, deutete eine Verneigung an und ging.

Linken-Fraktionschefin schmiss Kemmerich Blumenstrauß vor die Füße

Nach der Vereidigung von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen hat die Fraktionschefin der Linken ihre Enttäuschung mit einem fliegenden Blumenstrauß zum Ausdruck gebracht.

Nach Auffassung des Internationalen Auschwitz Komitees sendet die Wahl ein „fatales Signal“ an die Überlebenden des Holocausts. „In Thüringen macht Herr Höcke die Regierung“, so Vizepräsident Christoph Heubner. Höcke ist Gründer des des sogenannten AfD-„Flügels“, der vom deutschen Verfassungsschutz im Jänner 2019 als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus eingestuft wurde.

Ramelow erinnert an 1930

Der abgewählte Ramelow sprach laut mehreren Zeitungen von einem „deutschen Tabubruch“ und fügte hinzu: „Genau 90 Jahre nachdem es in Thüringen schon mal passiert ist: Sich von Herrn Höcke und dem Flügel wählen zu lassen – das war offenbar gut vorbereitet.“ In Thüringen war im Jahr 1930 die NSDAP erstmals in eine Landesregierung gekommen.

Protest vor dem Landtag

Wenige Stunden nach der Wahl gingen deutschlandweit Tausende Menschen auf die Straßen. Sie kamen in mehreren Thüringer Städten und unter anderem auch in Hamburg, Köln, Leipzig, Düsseldorf und München zusammen. In Berlin bekundeten Hunderte Demonstranten vor den Parteizentralen von FDP und CDU ihren Unmut.

Am Tag nach Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens haben sich Zehntausende auch in Petitionen gegen das Wahlergebnis gewandt. Auf einer Onlineplattform der Organisation Campact hatte eine Petition, die den Rücktritt Kemmerichs fordert, am Donnerstagvormittag bereits mehr als 120.000 Unterzeichner gezählt. „Herr Kemmerich, spielen Sie hier nicht mit. Treten Sie zurück“, heißt es zudem in einer Petition bei Change.org, die bis Donnerstagmittag von über 15.000 Menschen unterzeichnet wurde.

Menschen demonstrieren gegen das Wahlergebnis in Thüringen.
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In Thüringen wurde gegen die Wahl Kemmerichs protestiert

Bei der AfD hingegen war die Freude groß. Fraktionschef Höcke sagte, seine Partei sei angetreten, den bisherigen Ministerpräsidenten und Linken-Politiker Ramelow in den Ruhestand zu schicken. „Deswegen haben wir die Wahl heute so getätigt, wie wir sie getätigt haben“, sagte Höcke. Ein Twitter-Gratulationsschreiben für Thüringens neuen Ministerpräsidenten gab es unter anderem auch von der AfD-Fraktionschefin im deutschen Bundestag, Alice Weidel. Höcke sprach von einem „Neustart der Thüringer Politik“. Er hoffe, dass davon aber auch ein Signal ausgehe, das bundesweit beachtet werde.