NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger
ORF.at/Christian Öser
NEOS

Musterschüler auf der Oppositionsbank

Seit knapp sieben Jahren ist NEOS Teil der heimischen Parteienlandschaft. Aus der einst oft zitierten Bewegung ist eine etablierte Oppositionspartei geworden. Gerade jetzt, wo SPÖ und FPÖ mit sich selbst beschäftigt sind, ist die kleinste Fraktion oft die lauteste in der Kritik an der ÖVP-Grünen-Regierung. Doch in der politischen Mitte ist es nicht einfach.

Die Rolle der Opposition ist es, der Regierung auf die Finger zu schauen. NEOS brachte in der noch jungen Gesetzgebungsperiode mehr als 200 parlamentarische Anfragen an die Mitglieder der Regierung ein. Zuletzt konnte sich die Partei rund um die Äußerungen von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zur Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wieder mehr Aufmerksamkeit verschaffen. In wenigen Wochen startet der „Ibiza“-U-Ausschuss, den die kleinste Fraktion gemeinsam mit der SPÖ initiiert hat.

Die Vorgehensweise von NEOS läuft für gewöhnlich so ab: Entweder reagieren die 15 Abgeordneten auf mögliche Missstände – etwa mit Anfragen –, oder sie zeigen diese aktiv auf. Für eine Partei, die aus der Opposition heraus um Aufmerksamkeit kämpft, sei das nicht ungewöhnlich, sagt Politikberater Thomas Hofer im Gespräch mit ORF.at. „Aber die Arbeit von NEOS ist sehr professionell. Man sieht, dass die Partei den Finger in die offenen Wunden der Regierung legt und versucht, die grünen Unsicherheiten auszunutzen.“

Viel Medienpräsenz

Dass die Partei dabei einen guten Riecher hat, zeigt sich auch darin, dass sie in Relation zu ihrer Größe eine relativ starke Medienpräsenz aufweisen kann. Fast alle Expertinnen und Experten bewerten die Oppositionsarbeit von NEOS positiv – das war auch schon während der letzten ÖVP-FPÖ-Regierung der Fall. Schon damals hieß es unisono, NEOS sei als Oppositionspartei ein Musterschüler, während etwa die SPÖ noch nicht in der Rolle angekommen sei.

Der SPÖ kamen dann die parteiinternen Querelen in die Quere. Ähnlich erging es der FPÖ, die sich nach dem „Ibiza“-Schock erst langsam wieder in ihrer alten und gewohnten Rolle auf der Oppositionsbank zurechtfinden musste.

Opposition statt Zünglein an der Waage

Es hätte auch alles anders kommen können. Vor der Nationalratswahl im Herbst 2019 wurde NEOS als möglicher Koalitionspartner neben den Grünen gehandelt. Wenige Tage vor dem Urnengang galt die Variante in mehreren Umfragen sogar als beliebteste Koalitionsform. Doch am Ende hatte NEOS das Nachsehen. ÖVP und Grüne konnten dank großer Stimmenzuwächse auch ohne rosa Hilfe regieren. Heute sagt Nikola Donig, NEOS-Generalsekretär, dass er es nicht bedaure, kein Teil der Bundesregierung zu sein.

Meinl-Reisinger jubelt auf der Wahlparty von NEOS
ORF.at/Lukas Krummholz
Nach der Nationalratswahl im September 2019 jubelte NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger über das „beste Ergebnis von NEOS und einer liberalen Partei in Österreich“. Als Kontrollpartei habe sich NEOS schon einen Namen gemacht, sagen Fachleute.

Im Gespräch mit ORF.at gibt der Parteimanager zwar zu, dass sich viele NEOS-Wählerinnen und -Wähler eine Regierungsbeteiligung gewünscht hätten. Aber einen Koalitionspakt wie jenen von ÖVP und Grünen hätte NEOS nicht unterschrieben. „Die Mitglieder hätten dem nicht zugestimmt“, sagt er. Es gebe nämlich „rote Linien“, die man nicht überschreite. Donig meint etwa die „von ÖVP und Grünen geplante Willkürhaft“ (Sicherungshaft, Anm.) und die „Absage einer Pensionsreform, die aber nötig ist“.

Dass die Regierung heute türkis-grün und nicht türkis-grün-pink ist, liegt freilich auch am Wahlergebnis: Aus Sicht von NEOS, so Politikberater Hofer, legten ÖVP und Grüne zu viel zu und NEOS selbst zu wenig. Für Donig sieht die Situation so aus: „Wir sind und bleiben konstruktiv und kritisch in der Opposition. Unter ÖVP und Grünen gibt es überraschend viel zu tun, auch weil SPÖ und FPÖ quasi in der Versenkung verschwunden sind.“ Er verweist darauf, dass man binnen weniger Jahre schon einige Erfolge habe feiern dürfen und „schneller gewachsen“ sei als die Grünen.

Vorarlberg als Hochburg für NEOS

Tatsächlich hat sich die politische Landkarte seit dem ersten Antreten von NEOS verändert. Bei der Nationalratswahl 2013 zog die Partei mit fünf Prozent zum ersten Mal ins Hohe Haus ein. Damals galten Wien, wo man 7,7 Prozent der Wähler und Wählerinnen überzeugen konnte, und Vorarlberg mit 13,1 Prozent als Hochburgen. Aus Vorarlberg stammt Ex-Parteichef und NEOS-Mitbegründer Matthias Strolz.

Nach dem ersten Höhenflug fiel das Plus bei der Nationalratswahl 2017 allerdings marginal aus. Aus der Wählerstromanalyse von damals wird auch klar, warum: Viele Wählerinnen und Wähler, die 2013 ihr Kreuz bei NEOS machten, stimmten vier Jahre später für die ÖVP unter deren neuem Chef Kurz. „Die deutlich jüngere ÖVP stellte 2017 ein Gegengewicht zu NEOS dar, hatte aber auch die klassischen ÖVP-Wähler auf ihrer Seite“, so Experte Hofer. Für NEOS sei es auch deshalb schwierig gewesen, sich von der ÖVP noch deutlicher abzugrenzen.

Größere Zuwächse konnten aber zwei Jahre später – nach der „Ibiza-Affäre“ und mitten in der Causa Casinos – erzielt werden. Mehr als die Hälfte der NEOS-Wähler und -Wählerinnen von 2017 stimmten wieder für die Partei. Außerdem konnte die Partei von Beate Meinl-Reisinger, die den Vorsitz von Strolz übernahm, auch Stimmen aus dem ÖVP-Teich fischen. In vielen Gemeinden, in denen bei der Nationalratswahl 2013 noch weniger als vier Prozent der Stimmen auf NEOS fielen, erreichte die Partei 2019 mehr als vier, in manchen sogar mehr als acht Prozent.

Mehr Zuspruch im urbaneren Raum

Die leicht steigenden Prozentzahlen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass NEOS bei Wählerinnen und Wählern im ländlichen Gebiet nicht den Zuspruch erfährt wie in urbaneren Gebieten. Das Stadt-Land-Gefälle zeigt sich am deutlichsten in der Steiermark. Bei der Wahl 2019 holte man landesweit 5,4 Prozent, in Graz 8,6 Prozent. Bei der Landtagswahl in Tirol 2018 gaben landesweit 5,2 Prozent der Wahlbevölkerung NEOS ihre Stimme, in Innsbruck waren es 7,3 Prozent.

Grafik zeigt Landtagswahlergebnisse der NEOS
Grafik: ORF.at

Bei der jüngst geschlagenen Landtagswahl im Burgenland verpasste NEOS mit lediglich 1,7 Prozent sogar den Einzug in den Landtag. Überhaupt winkt das Burgenland bei der Partei eher ab. Bei der Landtagswahl 2015 wurden 2,3 Prozent erzielt, bei der Europawahl 2019, bei der man bundesweit 8,1 Prozent erreichte, machten nur 4,9 Prozent der Wähler und Wählerinnen ihr Kreuz bei NEOS. Für Donig war die Burgenland-Wahl ein „Rückschlag, aber vom Weg sind wir nicht abgekommen“.

NEOS sei weiterhin eine „urban geprägte“ Partei, sagt Donig, „aber weniger als die Grünen“. Man habe in den vergangenen Jahren nicht nur in den Ballungszentren wie Wien und Graz punkten können, sondern auch in einigen Bezirkshauptstädten. Künftig müsse sich NEOS aber die Frage stellen, wie man neue Zielgruppen ansprechen möchte. „Unsere Wähler sind zum Beispiel Akademiker, aber wir wollen mit der Politik auch Lehrlinge erreichen“, sagt der Generalsekretär.

Wählerpotenzial ausgeschöpft?

Eine leichte Aufgabe wird das jedenfalls nicht. Das Wählerpotenzial für liberale Parteien wie NEOS sei beschränkt, so Politikwissenschaftlerin Julia Partheymüller. Sie forscht am Vienna Center for Electoral Research und beschäftigt sich auch mit Wählergruppen und Wahlmotiven. So wird etwa das ländliche Gebiet für NEOS weiterhin ein schwieriges Terrain sein. „Wähler und Wählerinnen im ruralen Raum haben eine stärkere katholische Bindung. Es zählen traditionelle Werte, die man mit NEOS nicht in Verbindung bringt“, erklärte die Expertin.

Dass in Städten die Bevölkerung jünger als auf dem Land ist und über höhere Bildungsabschlüsse verfügt, komme der Partei entgegen. Aber allein erklärten diese Faktoren das Stadt-Land-Gefälle nicht. „Kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede spielen eine große Rolle bei der Wahl“, so Partheymüller. Eine Debatte über ein Kreuzverbot in Schulen komme vielleicht im städtischen Milieu gut an, aber nicht im ländlichen Raum, wo die Kirche ein wichtiger Teil des Lebens sei. Die ÖVP und die FPÖ würden hier punkten, NEOS nicht.

„Stuck in the Middle“

Als Partei hadert NEOS mit dem, was in der Wissenschaft als Phänomen der „leeren Mitte“ bezeichnet wird. Zwar verortet sich ein Großteil der Wählerinnen und Wähler bei Parteien, die eher moderate Positionen vertreten. Sie stimmen aber dann doch für größere Parteien links und rechts der Mitte. Der Grund: Diese werden Umfragen zufolge als regierungsfähiger, kompetenter und glaubwürdiger eingeschätzt. Zu dieser Erkenntnis ist der Politikwissenschaftler Roi Zur in seinem wissenschaftlichen Beitrag „Stuck in the Middle“ gekommen.

Darin beschreibt er ausführlich, dass Parteien, die sich in der Mitte ansiedeln, einen doppelten Nachteil haben: Mit ihren Standpunkten haben sie fast das Maximum an möglichen Stimmen, die sie holen können, erreicht. Selbst mit einem Positionswechsel nach links oder rechts gewinnen sie nicht signifikant hinzu – im Gegensatz zu den Parteien links und rechts der Mitte, die ihre Positionen moderater gestalten können, um neben ihrer klassischen Klientel auch Wählerinnen und Wähler anzusprechen, die sich in der Mitte sehen.

Politikwissenschaftler Zur empfiehlt den kleineren Parteien der Mitte, die Wähler und Wählerinnen davon zu überzeugen, dass sie vertrauenswürdiger, kompetenter und ehrlicher sind als die anderen Parteien. Allerdings geht damit der zweite Nachteil einher: Wenn sich alle Parteien – also auch jene links und rechts der Mitte – auf „nicht politische Attribute“ konzentrieren, profitiert die Partei der Mitte am wenigsten davon. Man steckt also fest.

Breitere Themenpalette – oder nicht?

Auch Partheymüller bestätigt diese Annahme von Zur. NEOS habe für viele Personen kein klares Themenprofil. „Man kümmert sich um alles. Man ist überall ganz okay, aber für Wähler und Wählerinnen ist das noch zu unspezifisch“, sagte sie. Die Ausgangslage für NEOS klinge zwar nicht besonders vorteilhaft, allerdings könnte sich die Partei bei den nächsten Landtagswahlen als Zünglein an der Waage präsentieren. Politikberater Hofer ergänzte: „NEOS hat die Aufmerksamkeit, muss aber in einzelnen Bereichen konkreter werden.“

Die kommenden Landtagswahlen finden im Herbst in Wien und im nächsten Jahr in Oberösterreich statt. In der Bundeshauptstadt schaffte NEOS bereits 2015 den Einzug, „in Oberösterreich wollen wir einen guten Wahlkampf machen und in den Landtag“, sagte NEOS-Generalsekretär Donig, der noch weiter in die Zukunft denkt: „2023 finden vier Landtagswahlen statt (Tirol, Niederösterreich, Kärnten und Salzburg, Anm.) und ein Jahr darauf die Nationalratswahl, wenn ÖVP und Grüne nicht schon davor zerbrechen.“