Immigranten in einem Flüchtlingslager auf Lesbos
Reuters/Elias Marcou
Flüchtlingslager

Lesbos als „Pulverfass kurz vor Explosion“

Angesichts vieler neuer Ankünfte in bereits völlig überfüllten Flüchtlingscamps spitzt sich die Lage auf den griechischen Ägäis-Inseln zu. Die Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich im Stich gelassen und klagen über Konflikte mit Geflüchteten und Migranten. Diese wiederum protestieren gegen die Zustände in den Lagern und die Dauer der Verfahren. Regionalpolitiker und NGOs fürchten eine baldige Eskalation.

Auf den Inseln Lesbos, Kos, Chios, Samos und Leros nahm das Konfliktpotenzial in den vergangenen Monaten stark zu. Laut UNHCR stieg im Vorjahr die Zahl der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten, die aus der Türkei nach Griechenland kamen, deutlich. 2018 waren es gut 50.500, 2019 rund 74.600. Und täglich setzen neue Boote von der Türkei aus über.

Mehr als 42.000 Männer, Frauen und Kinder halten sich derzeit in den Lagern auf, unter großteils unmenschlichen Bedingungen. Im Camp Moria auf Lesbos allein sind es mehr als 20.000 – ausgerichtet war das Lager für nur 3.000. „Die Zustände sind ärmlich und mittelalterlich, mit kaum Zugang zu Grundausstattungen, etwa sauberem Wasser, Strom, sanitären Anlagen und Gesundheitsversorgung“, so Sophie McCann von Ärzte ohne Grenzen (MSF) zum britischen „Guardian“. Die Zustände würden sich kontinuierlich verschlechtern.

Nur drei Ärzte in Moria

Zum gleichen Ergebnis kam kürzlich die NGO ProAsyl in ihrem Bericht „Albtraum Moria“. Laut diesem sind 40 Prozent der Schutzsuchenden auf Lesbos Kinder. Diese Buben und Mädchen seien „Unsicherheit und Gewalt“ ausgesetzt, hieß es im Bericht. Im vergangenen Jahr verloren drei Kinder in Moria ihr Leben. Laut der Nationalen Organisation für Öffentliche Gesundheit gibt es in Moria gerade einmal drei Ärzte, acht Krankenschwestern und zwei Hebammen.

Flüchtlingslager auf Lesbos
Reuters/Elias Marcou
Die Zustände in Moria sind „mittelalterlich“, so Ärzte ohne Grenzen

Kostas Moutzouris, Regionalgouverneur der nördlichen Ägäis, verglich die Lage auf Lesbos mit einem „Pulverfass kurz vor der Explosion“. Die Fronten verhärten sich fortwährend. Sowohl die Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten als auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Inseln organisierten sich kürzlich zu Protesten. Nach der Ankündigung des Baus neuer Flüchtlingslager auf Inseln in der Ägäis weiteten sich die Proteste am Donnerstag auf Athen aus.

Dutzende Demonstrierende versammelten sich vor dem Innenministerium mit Protestbannern. „Wenn wir einem Lager für 7.000 Menschen zustimmen, könnten es inoffiziell gleich 20.000 bis 25.000 Menschen sein“, sagte Giorgos Stantzos, Bürgermeister auf Samos. Die Inselbewohner fordern unter anderem die sofortige Abschiebung einer Vielzahl der geflüchteten Menschen und werfen der EU vor, sie im Stich zu lassen.

Wiederholt kam es bisher zu Ausschreitungen, als die Polizei auf Lesbos mit Tränengas gegen Flüchtlinge vorging. Im Jänner hatten Tausende Griechinnen und Griechen gegen die Lager protestiert.

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Sie forderten die sofortige Überstellung der Asylwerbenden in andere Landesteile. Auch ein Generalstreik wurde abgehalten. „Wir können diese Situation in unserer Kleinstadt nicht mehr ertragen. Wir haben auch Menschenrechte“, sagte Giorgos Stantzos, der Bürgermeister von Vathy auf Samos.

Einfluss von Rechtsextremen vermutet

„Die Menschen auf Lesbos wurden von der eigenen Regierung fast fünf Jahre lang damit allein gelassen, mit einer fehlgeschlagenen Aufnahmepolitik zurechtzukommen“, so McCann von Ärzte ohne Grenzen. „Sie sind genau wie die Flüchtlinge müde.“ Die Stimmung gegen die Migranten sei angeheizt, zudem seien Bürgergruppen aufgetaucht, von denen man die Beteiligung der rechtsextremen Goldenen Morgenröte vermutet, so der „Guardian“.

Die Menschen seien zornig, ihr Eigentum sei zerstört, ihre Schafe und Ziegen geschlachtet oder in die Häuser eingebrochen worden, wird der Regionalpolitiker Nikos Trakellis zitiert. „Als hier vor einigen Jahren schon 5.000 Menschen waren, war die Lage schlimm genug. Heute denken die Menschen, dass die Lage wirklich außer Kontrolle ist.“

Rückführungen funktionieren zu wenig

Die EU und die Türkei hatten 2016 vereinbart, alle neu auf den griechischen Inseln Ankommenden zurückzunehmen und stärker gegen Schlepperbanden vorzugehen. Wer keine Aussicht auf Asyl in Griechenland hat, sollte in die Türkei abgeschoben werden. Die Rückführung in die Türkei funktionierte aber wegen Personalmangels der Türkei nicht richtig. Wegen der anhaltenden Spannungen will die griechische Regierung nun die Maßnahmen verschärfen.

Demonstrant mit Tränengas
APA/AFP/Manolis Lagoutaris
Wiederholt gab es bei Protesten Ausschreitungen

Im Jänner trat ein Gesetz in Kraft, das kurze und begrenzte Fristen für die Prüfung von Asylanträgen vorsieht. Abgelehnte Asylwerbende sollen in die Türkei zurückgeschickt werden, wöchentlich rund 200 an der Zahl. Moria und vier andere Lager auf Chios, Samos, Leros und Kos sollen zudem bis zum Sommer geschlossen werden.

Neue Zentren angekündigt

Im März soll mit dem Bau von fünf neuen Registrier- und Abschiebezentren auf den Inseln begonnen werden. Die Bewohner der neu errichteten Camps sollen nur mit Genehmigung die Lager verlassen dürfen, müssten jedoch abends wieder zurückkehren, erklärte der Minister. Um den Bau der neuen Zentren zu beschleunigen, sollen notfalls Ländereien gegen Entschädigung enteignet werden. Das sieht ein Ministerialerlass vor, der am Montag von der Regierung gebilligt wurde.

Doch es ist nicht das erste Mal, dass die Schließung der Lager angekündigt wird. Wiederholt wurde eine Verbesserung der Lage versprochen, eingetreten ist sie nicht. Deshalb zeigten sich die Menschen an Ort und Stelle skeptisch: „Wir warten ab, was in der Realität passiert“, so Bürgermeister Stantzos. „Bisher ist nichts geschehen.“