Elfriede Lohse-Wächtler, Ausblick im Nachtlokal, 1930, Pastell auf Papier, 72,5 × 55 cm
Privatsammlung, Berlin
Niemals ohne Absinth

Künstleravantgarde im Nachtcafe

Was wäre die moderne Kunstgeschichte ohne Nachtlokale? Auf alle Fälle wären die urbanen Kunstszenen weniger experimentierfreudig gewesen, hätten sie nicht in selbstorganisierten Lokalen wie dem Le Chat Noir in Paris, dem Cabaret Voltaire in Zürich oder dem Cafe de Nadie in Mexiko City das Crossover zwischen Malerei, Grafik, Tanz, Theater und Poesie geübt. Die gelungene Schau „Into the Night“ zeichnet nun im Belvedere die feuchtfröhliche Geschichte der Avantgarden nach.

Mit frech funkelnden Augen blickt die Katze vom Plakat, ihre Barthaare sind aufgestellt, um ihren Kopf erstrahlt eine Art Heiligenschein. Es handelt sich um das Maskottchen des Pariser Lokals Le Chat Noir (Die schwarze Katze), das 1881 am Fuß des Montmartre eröffnet wurde und schnell zur wichtigsten Anlaufstelle der Pariser Kunstszene aufstieg.

In diesem „cabaret artistique“ wurden neben Wein und Absinth auch Tanz, Chanson und sogar Schattentheater geboten. Eine Tuschezeichnung von damals zeigt einen Saal voller Herren mit Zylindern. Die Monsieurs beklatschen die Schattenspielfigur eines Elefanten auf der Bühne und applaudieren: Das Rüsseltier hat einen Haufen gemacht.

Rare Exponate

Künstlerlokale sind Orte voller Mythen und Legenden über die Boheme und ihren ausufernden Lebenswandel. Von Künstlerinnen und Künstlern gestaltete, betriebene und frequentierte Etablissements wie das Le Chat Noir oder das Cabaret Voltaire in Zürich stellen Keimzellen der Avantgarden dar. Dennoch hat sich an Einrichtung und (Kunst-)Objekten oft nur wenig erhalten.

Ausstellungsansicht INTO THE NIGHT
Johannes Stoll / Belvedere, Wien
Plakat des Le Chat Noir (rechts): Das Lokal stieg rasch zum Treffpunkt der Pariser Kunstszene auf

„Ich wurde gewarnt: Pass auf, davon ist nichts mehr übrig!“, erzählte die Kuratorin Florence Ostende im Interview zu den Vorbereitungen ihrer Schau „Into the Night. Die Avantgarde im Nachtcafe“. Durch intensive Recherchen konnten aber rund 500 Exponate zusammengetragen werden, die von Gemälden und Originalgrafiken bis hin zu Visitkarten, Plakaten, Programmheften, Möbeln und ganzen Ausstattungen reichen.

Von Wien bis Teheran

„Wir verhalten uns eigentlich ‚unhöflich‘, denn wir feiern eine Postkarte ebenso wie ein Gemälde“, sagte Ostende und streicht die Rarität der ausgegrabenen Ausstellungsstücke hervor. Die aufwendige Schau wurde vom Belvedere gemeinsam mit dem Londoner Barbican Center produziert.

Austellungshinweis

„Into the Night. Die Avantgarde im Nachtcafe“, Belvedere und Orangerie, bis 1. Juni, montags bis sonntags 10.00 bis 18.00 Uhr, freitags bis 21.00 Uhr.

Zu ihren Highlights zählen die Nachbauten des Jugendstillokals Kabarett Fledermaus, das 1907 in der Wiener Innenstadt eröffnete, und des Künstlerclubs L’Aubette, dessen streng geometrischer Stil ab 1928 in Straßburg für Verwunderung sorgte. Aber nicht nur europäische Städte spielen in der Schau eine Rolle: In der von 1880 bis 1960 reichenden Auswahl werden auch Künstlerlokale aus dem New Yorker Harlem, aus Mexiko City, Teheran und Labdi in Nigeria vorgestellt.

Tanz in Serpentinen

Das Publikum dieser Kabaretts, Beisln und Clubs reichte von Aristokraten bis zu Anarchisten. Gemeinsam ist ihnen der experimentelle Zugang, der Mix von bildender Kunst mit Design, Theater, Poesie, Tanz und Musik. Die Kunst agierte interdisziplinär und spielerisch. „Tutti all’inferno“, also „Alle in die Hölle“, stand etwa auf der Visitenkarte des Cabaret del Diavolo, das der futuristische Künstler Fortunato Depero 1922 in Rom eröffnet hatte. Dieser Club nahm sich Dante Alighieris Klassiker „Die göttliche Komödie“ zum Vorbild und unterteilte seine drei Räumlichkeiten in Himmel, Fegefeuer und Hölle. Die Schau präsentiert lustige Holzmöbel mit Teufelshörnern und -schwänzen sowie einen originalen Wandteppich mit Beelzebuben.

Colette Omogbai, Todeskampf, 1963 Öl auf Hartfaserplatte 69 × 50,5 cm bzw. Karl Hofer Tiller Girls, vor 1927 Öl auf Leinwand 110,1 × 88,6 cm
Iwalewahaus, Universität Bayreuth; Kunsthalle Emden – Stiftung Henri und Eske Nannen (Montage)
Colette Omogbais „Todeskampf“ (1963, links), Karl Hofers „Tiller Girls“ (1927): Die Künstlertreffs waren „eminent politische Orte“

„Das waren eminent politische Orte“, unterstrich Belvedere-Direktorin Stella Rollig bei der Pressekonferenz und erwähnte etwa die Bedeutung informeller Künstlertreffs für Länder wie Nigeria, das nach seiner Unabhängigkeit seine kulturelle Identität suchte. Die selbstorganisierten Lokale boten auch Frauen neue Auftrittsmöglichkeiten.

So ist ein Ausstellungsraum der um 1900 in Paris für ihren „Schlangentanz“ gefeierten Amerikanerin Loie Fuller gewidmet. Maler Henri de Toulouse-Lautrec verewigte die Tänzerin, die mit Stoffbahnen auf Stangen auftrat, auf einer Serie von Drucken. Diese zeigen eine fast abstrakte Figur; Farbwolken spiegeln die Dynamik von Fullers fließenden Bewegungen wider.

„Kokain“ auf der Bühne

Zu Jahresbeginn wurde heuer viel an die „Roaring Twenties“ erinnert, die wilden 1920er, vor allem in Berlin. Mit Jean Mammen entdeckt die Schau eine starke Szenegängerin wieder, die neben Illustrationsjobs für Zeitungen auch Zeichnungen der Nachtclubs anfertigte. Viele Künstlerinnen und Künstler hätten das energievolle, atmosphärische Treiben so zum Motiv genommen, wie andere die Stimmungen von Landschaften, sagte Kuratorin Ostende.

Rudolf Schlichter, Damenkneipe, c. 1925, Privatsammlung
Viola Roehr v. Alvensleben, München. Foto: akg-images
Rudolf Schlichters „Damenkneipe“ (1925) ist ein Zeugnis der sexuellen Emanzipation

In Bildern wie Rudolf Schlichters „Damenkneipe“ zeugen lesbische Paare von der sexuellen Emanzipation. Daneben entstanden Porträts emanzipierter Frauen, wie etwa Otto Dix’ Pastellbild der Tänzerin Anita Berber. Auffällig ist die weiße Schminke der provokanten Variete-Performerin, die Drogen nicht nur konsumierte, sondern auch einen Tanz mit dem Namen „Kokain“ darbot. Darin trat sie als süchtige Prostituierte im Lederkorsett auf und schockierte das Publikum mit krampfartigen Zuckungen bis zum Zusammenbruch.

Zu Gast im Cafe Niemand

In der Zwischenkriegszeit ging es auch in den Jazzclubs im New Yorker Harlem hoch her. Auf der gezeichneten Stadtkarte „A Night-Club Map of Harlem“ von 1934 wird die Dichte an Nightclubs und Bars illustriert. Gegenüber bringt die Tuschezeichnung „Dancers and Cityscape“ von Aaron Douglas Wolkenkratzer mit Onkel Toms Hütte und afrikanischer Stammeskunst zusammen. In derselben Zeit traf sich in Mexiko City die Kunstszene im Cafe de Nadie (Cafe Niemand). Neben Grafiken werden auch bunt-surrealistische Masken ausgestellt, die der Künstler German Cueto für das Lokal als Wandschmuck schuf.

Ausstellungsansicht INTO THE NIGHT
Johannes Stoll / Belvedere, Wien
„Into the Night“ zeigt auch Beispiele von Künstlerbeisln außerhalb Europas

Nach dem mexikanischen Bürgerkrieg hatte das Land ebenso Bedarf an einer Stärkung seiner kulturellen Identität wie Nigeria nach seiner Unabhängigkeit 1960. Im Mbari Club in Ibadan wurden zum Beispiel Opern aufgeführt, welche die musikalischen Traditionen der Yoruba aufnahmen. Im Gegensatz zu den Kellerlokalen fungierte der Mbari Club mehr als offenes Kulturzentrum, wo auch Workshops abgehalten wurden. Zu den aus dieser Zeit erhaltenen Exponaten zählen Bilder der nach Nigeria ausgewanderten Österreicherin Susanne Wenger ebenso wie die ausdrucksstarke Malerei der Künstlerin Colette Omogbai, die 1963 im Mbari Club ausstellte.

Auf einen Drink im Museum

„Into the night“ erstreckt sich auch auf die Orangerie des Belvedere. Dort vermittelt der nachgebaute Tanzsaal „Cine-Bal“ einen Eindruck von Theo van Doesburgs geometrisierender Innenausstattung des Clubs L’Aubette in Straßburg. Am Ende krönt eine „stilistische Adaption“ des Wiener Kabaretts Fledermaus die Ausstellung. In Zusammenarbeit mit der Universität für angewandte Kunst wurde ein Teil der 7.000 Majolika-Fliesen vom Wandschmuck des legendären Lokals reproduziert.

Der Architekt Josef Hoffmann hatte das Lokal als Gesamtkunstwerk geplant; 1945 wurde es komplett zerstört. Durch die jetzige Ausstellung kann das Interieur, das der Kunstkritiker Ludwig Hevesi seinerzeit als eine „bunte Gräuelgrotte“ beschimpfte, jetzt bewundert werden. Das dichte Begleitprogramm der Schau macht sogar eine „Benützung“ möglich: An der Bar werden einmal im Monat bis Mitternacht Drinks ausgeschenkt.