In den letzten Jahren wurde es still um Fritsch. 2015 war ihr zweiter Roman „Winters Garten“ im Suhrkamp Verlag erschienen und sowohl zum Publikums- als auch Kritikererfolg geworden. Im selben Jahr las sie beim Ingeborg-Bachmann-Preis, wo sie mit ihrem Text „Das Bein“ zwei Preise gewann. Seitdem widmete sie sich ihren beiden Leidenschaften abseits der Literatur: Reisen und Polaroidfotografie.
Für ihren neuen Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ ließ sie sich nach dem Erfolg von „Winters Garten“ mehrere Jahre Zeit. „Gute Bücher müssen im Kopf auch erst nachwachsen, sie können nicht immer gleich herausgehaut werden“, sagte sie im Interview mit ORF.at. „Ich habe mir jetzt wirklich fünf Jahre Zeit gelassen, damit auch etwas Neues da ist, das sich nicht wiederholt. Man muss ja auch erst klüger werden, wenn man schreibt.“
Erzogen zum Verschwinden
Etwas Neues ist „Herzklappen von Johnson & Johnson“ auch tatsächlich geworden. Schilderte „Winters Garten“ ein hinsichtlich Ort und Zeit der Handlung unscharfes und sprachlich opulentes Weltuntergangsszenario, nimmt Fritsch im neuen Roman schwierige Familienkonstellationen unter die Lupe. Im Mittelpunkt steht Alma, eine junge Frau, in deren Familie seit Generationen ein beklemmendes Schweigen herrscht.
Es ist eine Familie, in der man „die Kinder zu vorsichtigen, stillen Wesen heranzog, die nicht stören sollten in dieser Welt, kleinen Menschen, die mit großer Ernsthaftigkeit vermieden, eine Last zu sein, aber versuchten, jene diffuse Traurigkeit auszugleichen, die stets in der Luft lag“.

Generationenübergreifendes Trauma
Ausgangspunkt dieser generationenübergreifenden Weitergabe von Traumata ist Almas Großvater, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und Jahre als Kriegsgefangener in Kasachstan zubringen musste. Je älter Alma wird, desto mehr begreift sie, dass etwas an ihr zehrt, das eigentlich nichts mit ihr zu tun hat. Als sie – längst erwachsen geworden – mit ihrem Partner Friedrich einen Sohn namens Emil bekommt, befürchtet sie, auch diesen damit zu belasten.
Erst spät wird Alma klar, dass Emil gegen das familiäre Trauma immun ist. Er leidet an einem seltenen Gendefekt, der es ihm unmöglich macht, Schmerz zu empfinden. Alma und Friedrich müssen Emil ständig überwachen, ihm langwierig begreifbar machen, was Schmerz ist. Alma erklärt ihrem Sohn, „er müsse sich den Schmerz als eine Art Traurigkeit des Körpers vorstellen, als einen Liebeskummer der Hände, Arme und Beine“.
Das alles beschreibt Fritsch in prägnanten und klingenden Sätzen, die sich gegenüber der geradezu barocken Stilistik von „Winters Garten“ reduziert ausnehmen und oft in ihrer scheinbaren Einfachheit und Rhythmik bestechen.
Vom Familien- zum Reiseroman
„Herzklappen von Johnson & Johnson“ ist zudem ein hybrider Roman geworden. Was als Familienroman beginnt, in dem die Geschichte der Generationen vor Alma allerdings wegen der der Familie eigenen Stummheit nie auserzählt wird, wird im letzten Drittel plötzlich zum Reiseroman.
Friedrich, der als Fotograf den Auftrag bekommt, sowjetische Industrieruinen für ein Hochglanzmagazin abzulichten, beschließt, mit Alma und Emil zu verreisen. Bisher hatten sie aus Sorge um Emil stets auf Reisen verzichtet. Das eigentliche Ziel der Reise ist Kasachstan, wo Alma das Lager, in dem ihr Großvater gefangen gehalten wurde und das somit den geografischen Ursprung des familiären Schmerzes bildet, aufsuchen möchte.
Allegorie und Schmerztherapie
Doch die Spuren der Vergangenheit verblassen. Auch dafür steht Emil. Der pathologisch schmerzfreie Bub wird explizit als Gegen- und Spiegelfigur zum traumatisierten Großvater positioniert, der als körperliche Manifestation seines Traumas – oder gebrochenen Herzens – eine künstliche Herzklappe der Marke Johnson und Johnson eingesetzt bekommt.
„Der Großvater und Emil standen sich gegenüber als Spiegelfigur der Zeit, mit einem jungen und einem alten Gesicht, voller Ersatzteile innen drin, Schrauben, die sie zusammen hielten, und einem falschen Herzen“, schreibt Fritsch. Die Konstellation kippt ins Allegorische: Die Nachwirkungen der erschütternden Verwerfungen durch die Kriege des 20. Jahrhunderts werden von jeder Generation neu erlebt und schlussendlich verwandelt.
Auf die Frage, ob diese Konstellation eine dezidiert österreichische Situation darstellt, die aus der zögerlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich resultiert, entgegnete Fritsch im Interview: „Ich glaube, das ist eine Familiengeschichte, die für zig Familiengeschichten steht, weil es tatsächlich eine Art von Kollektivtrauma sowohl der Opferschaft als auch der Täterschaft war, dem einfach niemand entkommen ist.“
„#fünfzehnmillionenmeter“
Für die Recherche zu „Herzklappen von Johnson & Johnson“ reiste Fritsch mit dem Auto nach Kasachstan. Die Reise dauerte über vier Monate und ist auf zahlreichen Polaroids dokumentiert, die Fritsch später unter dem Hashtag „#fünfzehnmillionenmeter“ auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichte.
Schlussendlich wurden es sogar noch mehr, nämlich 16.000 Kilometer. „Das Schönste an der Reise war, man musste gar nichts planen, denn wir haben auch im Auto gelebt, wie ja dann auch die Figuren im Buch später im Auto leben werden. Das heißt, wir haben ständig kampiert und übernachtet an den schönsten Stellen, die uns gerade eingefallen sind“, erzählte Fritsch beim Gesprächin der Bibliothek der Grazer Camera Austria.
Künstlerische Weiterentwicklung
Es ist eine unrühmliche Tradition der Literaturkritik, gerade bei erfolgreichen jungen Schriftstellerinnen mit Häme über misslungene Folgebücher nach dem Durchbruch herzuziehen. Ein Beispiel hierfür gab die Südtirolerin Bettina Galvagni ab, die 1997 als 19-Jährige für ihren Debütroman „Melancholia“ als Wunderkind gefeiert, 2002 beim Erscheinen von „Persona“ geradezu kollektiv verrissen wurde.
Das wird Fritsch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ nicht widerfahren. Sie legt einen souveränen und reflektierten Roman vor, der ihre künstlerische Weiterentwicklung dokumentiert und gelegentlich sogar die Erzählform von „Winters Garten“ kommentiert. Der Roman hat es bereits auf Platz fünf der ORF-Bestenliste im Februar geschafft.