Demonstration gegen die Justizreform in Polen
APA/AFP/Wojtek Radwanski
„Maulkörbe“ für Justiz

Polens Reformen bringen EU in Zwickmühle

Mit seiner Justizreform samt „Maulkorbgesetz“ für die Richterschaft hat sich Polen in der EU einigen Ärger eingehandelt. Unterschiedliche Verfahren aus Sorge um Polens Rechtsstaatlichkeit laufen. Für Brüssel ist das eine Herausforderung: Der Konflikt darf nicht eskalieren, doch muss die EU ihre Grundwerte wahren. Noch schmaler könnte dieser Grat im polnischen Wahlkampf werden.

An Reibungsfläche zwischen Warschau und Brüssel mangelt es nicht. Polen ist etwa eines der Länder, das sich seit Jahren weigert, EU-Beschlüsse zur Verteilung von Flüchtlingen umzusetzen. Auch beim Thema Klimaschutz gibt es Zwist: Das weitgehend von Kohle abhängige Polen klinkte sich als einziges EU-Land beim Ziel der Klimaneutralität ab 2050 aus. Das Land bekam mehr Zeit und soll laut dem Budgetvorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michels ohnehin trotzdem – wenn auch gekürzte – Finanzhilfen für den Ausstieg aus der Kohle erhalten.

Ein schon länger dauernder Konflikt liegt freilich im Bereich der Justiz. Brüssel wirft Polen hier schon seit Jahren schwere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor. Auch die jüngsten Schritte der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zogen Verwerfungen mit Brüssel nach sich.

Sanktionen nur schwer zu beschließen

Die Reform des Justizsystems ist seit 2015 im Gang, zunächst stand der Umbau des Verfassungsgerichts an, gefolgt von einer Reihe von Maßnahmen, die laut Kritikern die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Eine umstrittene Regelung zu Zwangspensionierungen oberster Richter wurde wieder gekippt, der EuGH hatte sie verworfen. Doch danach führte die Regierung ihren Kurs unbeirrt weiter.

Seitens der EU wurden mehrere Vertragsverletzungsverfahren eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) erhoben. Auch ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags wurde eröffnet. Es sieht erhebliche Sanktionen bis hin zum Verlust des Stimmrechts Polens vor. Die EU-Mitglieder müssen allerdings einstimmig für Sanktionen stimmen – daher sieht man das in Warschau eher gelassen.

Priorität für die PiS

Die Reform der Justiz gehöre zu den Prioritäten der PiS, so Kai-Olaf Lang von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik gegenüber ORF.at. Der Politologe ist der Ansicht, bei der Reform gehe es „primär darum, durch Personalpolitik eine Art Elitenwechsel in den Gerichten herbeizuführen und Instrumente zu schaffen, die die Unabhängigkeit der Rechtsprechung einschränken können“.

Kürzlich kam es zu neuen Gesetzen, die die Rechte von Richterinnen und Richten stark beschneiden. Ihnen drohen nun Geldstrafen, Herabstufung oder Entlassung, wenn sie die Kompetenz oder Legalität eines anderen Richters, einer Kammer oder eines Gerichts infrage stellen. Auch dürfen sie sich nicht politisch betätigen – ein „Maulkorbgesetz“, wie Kritiker und Opposition sagen.

Richterschaft als „Kaste“

„Die PiS hat sich letztlich Mechanismen geschaffen, um die Unabhängigkeit der Gerichte einzudämmen“, so der Politologe Lang. „Diese sind aus Sicht der PiS eine Bastion liberaler oder postkommunistischer Seilschaften“. Für PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski beugt die Regierung mit ihren Schritten gegen die Richterschaft – einer „unkontrollierten Kaste“, wie er sagt – Korruption vor.

Auch Justizminister Zbigniew Ziobro nannte die Richterschaft eine „Kaste“: „Eine einflussreiche Gruppe von Richtern verteidigt ihre Privilegien und hat ihren Gehorsam gegenüber dem Gesetz, der Verfassung und dem polnischen Staat aufgekündigt.“ Dank des neuen Gesetzes müssten sie, bisher ungestraft, nun mit Konsequenzen rechnen.

Zbigniew Ziobro und Vera Jourova
AP/Czarek Sokolowski
EU-Kommissarin Jourova zu Besuch bei Justizminister Ziobro in Warschau

Ziobro ist zugleich Generalstaatsanwalt und hat weitgreifende Vollmachten für die Bestrafung von Richtern erhalten. Eine neue Disziplinarkammer kann jeden Richter oder Staatsanwalt entlassen. Ernannt werden die Mitglieder dieser Kammer vom Präsidenten der Republik. Das ist derzeit Andrzej Duda, der zwar gemäß der Verfassung parteilos ist, aber aus den Reihen der PiS stammt. Duda unterschrieb kürzlich das Gesetz zur Richterdisziplinierung, trotz aller Kritik im In- und Ausland.

Polens Präsident Andrzej Duda
APA/AFP/Janek Skarzynski
Präsident Duda steht der PiS nahe

Kommissarin fürchtet Unumkehrbarkeit

Einhergegangen ist das alles mit einer intensiven Kampagne der Regierung, nicht nur in Polen, sondern auch auf allen Ebenen in Brüssel. Abgeordnete, die EU-Kommission und Journalistinnen und Journalisten erhielten kürzlich etwa Tausende E-Mails, in denen die PiS ihre Maßnahmen unter der Titel „Wir wollen faire Gerichte“ verteidigt. Einige Abgeordnete sprachen von einem Einschüchterungsversuch.

Die für Rechtsstaatlichkeit zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, warnte vor einer „Zerstörung“ des Rechtsstaats in Polen. Das Gesetz zur Richterdisziplinierung sei „kein gezielter Eingriff gegen einzelne schwarze Schafe mehr, wie ihn auch andere EU-Mitglieder kennen, sondern ein Flächenbombardement“, sagte Jourova dem „Spiegel“. Es könnte gar schon zu spät sein, um den polnischen Rechtsstaat noch zu retten. „Die sogenannte Reform in Polen ist jetzt an einem ganz gefährlichen Moment angekommen, weil sie unumkehrbar zu werden droht“, sagte Jourova.

Bevölkerung profitiert von PiS-Sozialmaßnahmen

Polens Menschenrechtskommissar Adam Bodnar sprach wegen der Justizreform der PiS von einem drohenden „rechtlichen Polexit“. Der Jurist ist seit 2015 zusammen mit seiner Behörde dafür zuständig, Bürgerrechte, Menschenrechte und die Verfassung zu schützen. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ sagte Bodnar, die PiS-Regierung nutze „eine Salamitaktik bei der Beseitigung der Unabhängigkeit von Institutionen“. Das könne sie sich leisten, weil die Wirtschaft wächst und die Regierung viele Sozialleistungen eingeführt habe. „Zudem misstrauen Polen vielen Institutionen, erst recht der Justiz, was etwa am schlechten Ruf aus kommunistischer Zeit oder an überlangen Verfahren liegt.“

Laut Miroslaw Wroblewski von der polnischen Menschenrechtskommission ist ein „rechtlicher Polexit“ inzwischen tatsächlich Thema in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumindest in der unabhängigeren Berichterstattung. Das Wort vom „rechtlichen Polexit“ sei als Frühwarnung gemeint. Denn was vorerst nur den Justizbereich betreffe, könne sich auf viele andere Bereiche auswirken. „Es ist eine schiefe Ebene“, so Wroblewski zu ORF.at.

Stimmung kann „ins Rutschen geraten“

Das Regierungslager weist Vorwürfe, einen rechtlichen oder sonstigen „Polexit“ voranzutreiben, von sich. „Die PiS selbst ist in der Tat letztlich nicht EU-feindlich, sondern möchte die EU verändern oder zumindest Kompetenzen der Gemeinschaft so weit einhegen, dass Kernelemente der staatlichen Souveränität nicht angetastet werden“, so der Politikwissenschafter Lang. Die große Mehrheit der Bevölkerung sehe in der EU-Mitgliedschaft Vorteile, allein schon wegen der immensen Transfers aus Brüsseler Fördertöpfen.

„Allerdings kann diese Zustimmung auch ins Rutschen geraten – und zwar dann, wenn die Polarisierung bei EU-Themen zunimmt und im ‚patriotischen‘ Bereich der polnischen Politik ein Ausgreifen Brüssels gegen Polens Unabhängigkeit in einer offensiven Kampagne angeprangert würde.“

Duda tritt wieder an

Für die PiS bedeuten die hohen Zustimmungsraten für die EU eine Herausforderung, falls der Konflikt mit Brüssel eskaliert. Das gelte besonders in Wahlkampfzeiten. Am 10. Mai findet in Polen die erste Runde der Präsidentschaftswahl statt, der von der PiS unterstützte Duda tritt wieder an. Er brauche auch die Stimmen gemäßigter Wählerschichten.

„Die aktuelle Lust an einer Konfrontation mit der EU ist allein eine Konsequenz aus der Innenpolitik“, sagte hingegen Piotr Buras, Direktor des Warschauer Büros des European Foreign Council im Jänner gegenüber dem deutschen Magazin „Cicero“. Man habe sich in diesem Wahlkampf für eine Dramaturgie entschieden, „in der Duda als Verteidiger Polens inszeniert wird“, so Buras. Und diese wahltaktische Politik berge Gefahren auch für die EU: „Das kann Folgen für das gesamte europäische Rechtssystem haben.“

Mühen der Realpolitik

Polen ist einer der größten Profiteure seit der EU-Osterweiterung 2004, das Land gehört zu den Top-Nettoempfängern. Die Spannungen mit den Brüsseler Behörden mildert das nicht. Gänzlich auf Konfrontation will die Union aber nicht setzen.

Eine Isolierung dieses wichtigen Mitgliedslandes wäre beim gegenwärtigen Zustand der EU kontraproduktiv, so der Osteuropaexperte Lang. „Die EU hat ein Interesse daran, dass Polen nicht ins Abseits gerät.“ Die EU müsse gerade jetzt ihren Zusammenhalt stärken. Polen sei ein wichtiger Akteur in vielen Bereichen, Europa müsse realpolitisch handeln – mit einer Art Abkopplung des Themas Rechtsstaat von allen anderen Fragen.