Eine Flasche des Parfüms Chanel No. 5
Reuters/Benoit Tessier
Parfum und Politik

Chanel No. 5 und der Duft der Sowjets

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, erzählt als Geschichte des Duftes: Der Historiker Karl Schlögel beleuchtet in seinem neuen Buch Parfumdynastien in Ost und West. In „Der Duft der Imperien“ skizziert er kurzweilig einen Parallellauf von Duft und hoher Politik – und fördert Überraschendes über Chanel No. 5 zutage.

Außen nüchternes Design, quadratisch und reduziert, der goldfarbene Inhalt ganz im Mittelpunkt: Coco Chanels Parfum Nr. 5, 1922 auf den Markt gekommen, war eine Revolution. Bis dato waren auf den Flakons ornamentale Verspieltheiten üblich gewesen, damit wurde jetzt aufgeräumt. Mit ihrem „klaren und kühnen Duft“ wurde die Nr. 5 weltweit berühmt – einen Ehrenplatz im New Yorker MoMa inklusive.

So weit, so bekannt. Wohl weniger bekannt ist, wie Madame Chanel zu dem Duft kam, und wie nahe sie damit der „östlichen Duft-Hemisphäre“ stand – namentlich einem Duftwasser, das, wie Schlögel schreibt, „überall in der Luft lag, wo es in der Sowjetunion besonders festlich zuging“. Sein „süßes, schweres Aroma“ roch man im Moskauer Konservatorium und im Bolschoi-Theater, bei Hochzeiten und Sponsionsfeiern, später auch in der DDR.

Das „Lieblingsbouquet“ von Katherina II.

Schlögel, einer der international profiliertesten Osteuropa-Historiker, kennt diese spezielle Duftnote schon lange. Ursprünglich wollte er nur ihre Marke herausfinden: Rotes Moskau. „Alles Weitere ergab sich wie von selbst“, so der Historiker.

Modedesignerin Coco Chanel
APA/AFP
Coco Chanel: Das legendäre Chanel No. 5 und Rotes Moskau haben eine gemeinsame Wurzel

Schlögel machte eine spektakuläre Entdeckung: Chanel No. 5 und Rotes Moskau haben einen gemeinsamen Ursprung – das „Lieblingsbouquet der Kaiserin Katherina II.“. Dieses Bouquet war 1913 zum Jubiläum der russischen Romanow-Dynastie geschaffen worden, vom Moskauer Hoflieferanten Rallet, ein Geschenk an die Mutter des Zaren.

Kaiserliche Duftnoten für das Aroma der Revolution

Das kaiserliche Russland war in der Parfümeriekunst eine Weltmacht gewesen – und weltweiter Anziehungspunkt für die Leute des Fachs. Dann aber kam 1917. Einer der Rallet-Parfümeure, der Franzose Auguste Michel, kam in den Revolutionswirren nicht aus Russland heraus. Er arrangierte sich mit dem System und wurde schließlich Chef der Parfumfabrik Neue Morgenröte, wo er das Rezept modifizierte und aus dem imperialen Odeur 1927 das Aroma des revolutionären Russlands schuf. Sein Landsmann und Kollege Ernest Beaux ging hingegen zurück nach Paris und entwickelte – ebenso auf Basis des Lieblingsbouquets – Chanels ikonisches Parfüm.

Cover des Buches „Der Duft der Imperien“ von Karl Schlögel
Hanser

Buchhinweis

Karl Schlögel: Der Duft der Imperien. Chanel No 5 und Rotes Moskau. Hanser, 224 Seiten, 23,70 Euro.

Schlögels „Der Duft der Imperien“ ist – im Gegensatz zu seinen monumentalen Studien zu „Moskau 1937“ oder zu Sankt Petersburg als „Laboratorium der Moderne“ – nur gut 200 Seiten schmal, eine „außerplanmäßige Recherche“, wie er schreibt. Wieder einmal gelingt es ihm aber darin, mittels einer Art Montage vermeintlich Disparates zusammenzuspannen: Olfaktorisches und Weltpolitisches, Luxus und Alltag, Nostalgie und Kulturgeschichte – ein Brückenschlag zwischen Ost und West, hier nicht zuletzt in Form von weiteren, bemerkenswerten Verbindungslinien.

Rotes Moskau, Goldene Ähre und Neuer Alltag

Ebenso wie Chanel No. 5 symbolisierte auch Rotes Moskau den Abschied von der „Belle Epoque“ und die Beschwörung einer Moderne, die für unnötigen Schnickschnack nicht viel übrig hatte: ein Ausdruck der veränderten Geschlechterverhältnisse in Ost und West. Und da wie dort stand im Hintergrund eine starke Frau. Polina Schemtschuschina, die Frau des Außenministers Molotow, war wie Chanel eine „Selfmade-Woman“. Die „Kommissarin des Parfums“ begründete als Leiterin des staatlichen Parfum-Trusts TeShe ab 1930 den Boom der sowjetischen Kosmetik- und Parfumindustrie und setzte sich dafür ein, dass Kosmetika auch in Zeiten der Not verfügbar waren.

Es war eine Wende in der sowjetischen Praxis gewesen: In den ersten Jahren nach der Revolution galt Parfum noch als Zeichen von Dekadenz und Verzärtelung, ehe es rehabilitiert wurde – produziert im Fünfjahresplan, unter revolutionären Namen wie Goldene Ähre, Neuer Alltag oder eben auch Rotes Moskau.

Geschichte eines vernachlässigten Sinns

Weltgeschichte als Geschichte des Geruchs: Auch nach Patrick Süskinds Welterfolg „Das Parfum“ gilt das Olfaktorische noch immer als vernachlässigter Sinn, wie Schlögel meint – und das, obwohl es gerade Gerüche sind, die uns ganz unmittelbar in Erinnerung bleiben. Das Problem mit dem Geruch, natürlich: Er ist schwer zu greifen, ist flüchtig.

Polina Schemtschuschina, die Frau des ehemaligen sowjetischen Außenministers Vyacheslaw Molotow
APA/AFP/Intercontinentale
Schemtschuschina, die „Kommissarin des Parfums“

Schlögel versucht das in Form von fast lyrischen Parts zu kompensieren – etwa indem er Russland als eine Duftkultur „mit den langen Wintern, den stürmisch anbrechenden Frühlingswochen, der von Harz getränkten Luft der Wälder oder den subtropischen Gärten der Schwarzmeerküste“ beschreibt.

Dazu durchaus kontrastreich präsentiert er nüchtern die Fakten: Im stalinistischen Russland enden Karrieren der Parfummacher abrupt. Parfümeur Michel verschwand spurlos, die Jüdin Schemtschuschina wurde im Zuge einer antisemitischen Kampagne 1949 für fünf Jahre in die Verbannung geschickt – und blieb trotzdem stets treue Anhängerin Stalins.

Verquickung von Duft und Politik

„Der Duft der Imperien“ zeigt so aufschlussreich, wie eng Duft und hohe Politik verquickt waren – auch auf der anderen Seite: Chanel arbeite im Zweiten Weltkrieg als Agentin für die Nazis und ließ für sie ihre Kontakte – etwa zu Winston Churchill – spielen. Im Gegensatz zu Schemtschuschina konnte sie sich nach 1945 aber schnell rehabilitieren, im Rückgriff auf ebendiese ausgezeichneten Kontakte.

Der Duft Rotes Moskau ist auch heute noch erhältlich, allerdings ohne das Aroma der Revolution. Über die Jahre wurde die Rezeptur mehrfach verändert. Mit dem originalen „Duft der verlorenen Zeit“ wird indes ordentlich Geschäft gemacht. Die russischen Vintage-Flakons bekommt man inzwischen zu Sammlerpreisen von bis zu 700 Euro.