Türkische Soldaten in der syrischen Stadt Atareb
APA/AFP/Aref Tammawi
„Letzte Warnung“

Erdogan droht mit Militäreinsatz bei Idlib

Der Konflikt zwischen der Türkei und den von Russland unterstützten syrischen Streitkräften im Nordwesten Syriens spitzt sich weiter zu. Ein Einsatz gegen syrische Streitkräfte stehe in der Provinz Idlib „unmittelbar bevor“, sollten sich diese nicht bis zum Monatsende zurückziehen. Die humanitäre Lage für die Flüchtlinge in der Region wird unterdessen immer kritischer.

Die türkischen Truppen könnten „ohne Vorwarnung eines Nachts auftauchen“, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Das sind unsere letzten Warnungen.“ Die Gespräche mit Russland als Verbündetem der syrischen Streitkräfte gingen weiter, sie hätten jedoch bisher kein „Ergebnis, das wir wollen“, gebracht. „Wir sind sehr weit von dem Punkt entfernt, den wir erreichen wollen.“

Die Türkei stockte in den vergangenen Tagen ihre Kräfte in Idlib bereits auf. „Wir haben alle unsere Vorbereitungen getroffen, um unsere eigenen Pläne umsetzen zu können“, betonte Erdogan. „Wir sind entschlossen, aus Idlib eine sichere Region für die Türkei und die einheimische Bevölkerung zu machen, egal zu welchem Preis.“

Russland warnte die Türkei unverzüglich vor einem Angriff auf syrische Truppen. Das wäre das „schlechteste Szenario“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Man sei aber auch weiter mit der Regierung in Ankara in Kontakt, um Spannungen zu vermeiden, die zu einer weiteren Eskalation in der syrischen Provinz führen könnten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
AP/Presidential Press Service
Erdogan stellte ein Ultimatum bis Monatsende – dann könnten die türkischen Truppen „ohne Vorwarnung“ auftauchen

Russland lehnt Erklärung zu Waffenruhe ab

Eine Erklärung für eine Waffenruhe fand im UNO-Sicherheitsrat allerdings nicht die Zustimmung Moskaus. Russland habe die französische Initiative abgelehnt, sagte Frankreichs Botschafter bei den Vereinten Nationen, Nicolas de Riviere, am Mittwoch nach der Sitzung des höchsten UNO-Gremiums. Sein belgischer Kollege Marc Pecsteen de Buytswerve bestätigte das Veto Moskaus. In der Erklärung hatte Frankreich ein Ende der Kämpfe und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in der Provinz Idlib gefordert.

Die syrische Armee geht seit Dezember mit Unterstützung Moskaus militärisch verstärkt gegen die überwiegend islamistischen und dschihadistischen Milizen in der Provinz Idlib vor. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad will die Region wieder unter seine Kontrolle bringen. Die Türkei steht aufseiten der Gegner Assads, die ihre letzte Hochburg in dem Bürgerkriegsland verteidigen wollen.

Ankara und Moskau werfen sich gegenseitig vor, ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen von Sotschi aus dem Jahr 2018 nicht einzuhalten. Beide Seiten hatten sich damals auf die Einstellung der Kämpfe in Idlib geeinigt. Alle seither vereinbarten Feuerpausen wurden jedoch kurz nach Inkrafttreten gebrochen.

Flüchtlingskatastrophe mit „schrecklichem Ausmaß“

Seit Anfang Dezember haben rund 900.000 Menschen nach Angaben der Vereinten Nationen das umkämpfte Gebiet verlassen. Noch nie seit Kriegsbeginn 2011 flohen so viele Menschen innerhalb so kurzer Zeit. Der Konflikt habe „ein schreckliches Ausmaß erreicht“, sagte der UNO-Nothilfekoordinator Mark Lowcock am Dienstag. Die Menschen seien traumatisiert und gezwungen, bei eisigen Temperaturen draußen zu schlafen, weil die Lager voll seien.

900.000 Menschen auf der Flucht

Die Vereinten Nationen schätzen, dass seit Dezember 900.000 Menschen aus dem Nordwesten Syriens geflohen sind, vor allem Frauen und Kinder.

Ein Bündnis syrischer Hilfsorganisationen appellierte am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Istanbul an die Weltgemeinschaft, „aufzuwachen“ und das „Gemetzel“ in Idlib zu stoppen. Die Menschen flöhen „auf der Suche nach Sicherheit, nur um dann wegen extremer Wetterbedingungen und Ressourcenmangel zu sterben“. Insgesamt seien 310 Millionen Euro internationaler Hilfsgelder für Nahrungsmittel, Wasser und Unterkünfte nötig. Das Bündnis forderte die Kriegsparteien zudem auf, Hilfsorganisationen einen sicheren Zugang in die Region zu ermöglichen und sich auf einen Waffenstillstand zu einigen.

Dramatische Appelle von NGOs

Auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen forderte ein Ende der Kampfhandlungen. „Die Situation der Menschen ist verzweifelt“, erklärte Julien Delozanne, Landeskoordinator für Syrien, am Mittwoch. Die Lebensbedingungen in den Vertriebenenlagern seien bereits jetzt hart. Wenn die Angriffe fortgesetzt würden, werde sich die Lage noch verschlimmern.

Den syrischen Regierungskräften und ihren russischen Unterstützern wurde wiederholt vorgeworfen, gezielt Krankenhäuser und Kliniken anzugreifen. Von rund 550 medizinischen Einrichtungen im Nordwesten Syriens seien nur rund die Hälfte in Betrieb, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Dienstag.