Bei der Kundgebung auf dem Freiheitsplatz in der Hanauer Innenstadt sprachen auch Angehörige der Opfer. Auf Plakaten waren Aufschriften wie „Muss erst getötet werden, damit Ihr empört seid“ und „Menschenrechte statt rechte Menschen“ zu lesen. Für die Demonstration vom Freiheitsplatz in der Innenstadt zu den beiden Tatorten hatten die Veranstalter mit 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gerechnet – es kamen aber viel mehr. Die Polizei sprach am Nachmittag von mindestens 3.000, die Organisatoren des Bündnisses Solidarität statt Spaltung von rund 6.000 Menschen.
An dem Gedenken nahm auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir teil. Es sei schwer, Worte zu finden, wie Özdemir nach Angaben der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) bei einer Rede sagte. Im Beisein von Angehörigen der Opfer forderte der Grünen-Politiker, dass es keine neuen Taten wie diese mehr geben dürfe. Zudem äußerte er die Hoffnung, „dass dieses Jahr in die Geschichte eingeht als das Jahr, in dem die Republik Ernst macht gegen Rechtsradikalismus“.
Auch im hessischen Marburg beteiligten sich mehrere tausend Menschen an einer Demonstration mit anschließender Mahnwache. „Ich bin stolz, dass so viele Menschen diesem Aufruf gefolgt sind“, wurde der Oberbürgermeister der Stadt, Thomas Spies (SPD), vom Nachrichtenportal Hessenschau zitiert: „Ich bin stolz auf unsere Stadt, die so viel Solidarität, so viel Anteilnahme, so viel Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zeigt.“
Appell für „offene, tolerante und bunte Gesellschaft“
Der rassistisch motivierte Anschlag, bei dem am Mittwoch zehn Menschen ermordet und weitere schwer verletzt wurden, „lässt uns verständnislos und geschockt zurück“, teilte am Samstag etwa auch der Fußballclub Werder Bremen vor dem Bundesliga-Spiel gegen Borussia Dortmund auf Facebook mit. „Der SV Werder Bremen und Borussia Dortmund stehen für eine offene, tolerante und bunte Gesellschaft. Hier ist kein Platz für rassistische Äußerungen, Gewalt und jegliche Art der Ausgrenzung und Diskriminierung“, hieß es dazu weiter.
So wie bei anderen Spielen der deutschen Bundesliga, der 2. Bundesliga, der 3. Liga und etlichen weiteren Sportveranstaltungen gab es am Samstag vor dem Anpfiff eine Schweigeminute. „Hass und Rassismus haben in unserer Gesellschaft keinen Platz“, sagte etwa auch der Hallensprecher bei den deutschen Leichtathletik-Hallenmeisterschaften in der mit 3.750 Zuschauer ausverkauften Leipziger Arena.
Hanau plant zentrale Trauerfeier
Hanau plant eine zentrale Trauerfeier der Stadt für die Opfer des Attentats. Diese werde in Abstimmung mit den Angehörigen sowie den Bundes- und Landesbehörden vorbereitet, teilte die Kommune am Samstag mit. Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) berief für Montag eine Sondersitzung des Runden Tischs der Religionen ein.
„Wir wollen sichergehen, dass wir immer nach den wirklichen Bedürfnissen der Angehörigen handeln“, sagte Kaminsky. „In diesem Rahmen werden wir klären, wie den verschiedenen Bedürfnissen rund um die Trauer Sorge getragen werden kann.“ Dem Gremium gehören laut Stadt 36 Hanauer Kirchen- und Religionsgemeinschaften an, die sich regelmäßig treffen.
Ruf nach „Sofortmaßnahmen“
In der Debatte über die politischen Folgen forderten unterdessen die Grünen im deutschen Bundestag einen schnellen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus in Deutschland. Zu den Sofortmaßnahmen sollen ein Krisenstab, ein Rassismusbeauftragter und schärfere Waffengesetze gehören. Grünen-Chef Robert Habeck sagte der „Passauer Neuen Presse“ (Samstag-Ausgabe), die AfD solle als Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz beobachtet werden.
Die Relativierungen und Verharmlosungen der Morde von Hanau durch AfD-Politiker seien unerträglich, so Habeck. „Diese Partei schürt Rassismus und leistet Rechtsextremismus Vorschub“, fügte der Grünen-Vorsitzende hinzu. Zuvor hatten auch Politiker von Union, SPD und FDP eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz gefordert.
Vorerst keine Änderung beim Waffenrecht
Die deutsche Regierung plant als Folge des Anschlags vorerst noch keine weitere Reform des Waffenrechts. „Es kursieren in Sozialen Netzwerken derzeit Gerüchte über ein angeblich geplantes Verbot von Schusswaffen ab Kaliber 5,56 Millimeter für Sportschützen“, sagte ein Sprecher des deutschen Innenministeriums laut dpa. Auch laut Innenminister Horst Seehofer (CSU) sei das „eine totale Falschmeldung. Es ist offensichtlich der Versuch, die Bürger gezielt zu verwirren und zu verunsichern.“
Zehn Menschen getötet
Am Mittwochabend hatte ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln offenbar aus rassistischen Gründen getötet, später wurde er ebenso wie seine 72-jährige Mutter tot in seiner Wohnung aufgefunden.
Seehofer zufolge sei erst seit Donnerstag ein verschärftes Waffenrecht in Kraft getreten. Darüber hinaus seien derzeit keine Änderungen geplant. Gegenüber der „Bild“-Zeitung plädierte Seehofer allerdings unter bestimmten Voraussetzungen für zusätzliche psychologische Tests für Inhaber eines Waffenscheins. Er sprach von „einem medizinischen Gutachten oder einer ärztlichen Bestätigung“. Zu einer möglichen Verschärfung des Waffenrechts sagte der SPD-Innenexperte Helge Lindh, nach Hanau müsse eine weitere Nachjustierung „sehr ernsthaft“ geprüft werden.
„Hohe Gefährdungslage“
Infolge des Anschlags von Hanau bekräftigte ein Sprecher Seehofers am Samstag, es gebe eine „allgemeine abstrakt hohe Gefährdungslage“. Nach Gewalttaten wie in der hessischen Stadt müsse mit Reaktionen gerechnet werden, daher seien die Sicherheitsbehörden allgemein wachsam. Der Sprecher verwies auf die Ankündigung Seehofers vom Vortag, dass nach dem Anschlag von Hanau die Polizeipräsenz in ganz Deutschland erhöht wird. Seehofer warnte vor der Gefahr, dass es zu Nachahmungstaten sowie Zwischenfällen aus „Wut“ über den Anschlag kommen könne.
Die Zeitungen der Funke-Mediengruppe hatten berichtet, die Sicherheitsbehörden befürchteten gewaltsame Gegenreaktionen, etwa bei Veranstaltungen der linksextremistischen Szene gegen rechts, aber auch Straftaten gegen örtliche Vertreter der AfD.