Ein Mann hält auf einem Schneidbrett einen aufgeschnittenen Laib Brot
Puratos
Bibliothek für Brot

Das Erbe des Sauerteigs

Um Brot zu backen, braucht es im Prinzip nicht mehr als Mehl, Wasser und einen Ofen. Dass das aber nicht alles ist, weiß jeder, der es schon einmal selbst versucht hat. Deshalb beschlossen Brotbackexperten und -expertinnen in der belgischen Kleinstadt Sankt Vith, dem Erbe des Sauerteigs auf den Grund zu gehen, um ausgewählte Kreationen für die Nachwelt zu erhalten. Es entstand die weltweit einzigartige Sauerteigbibliothek.

Die Idee dazu wurde 2009 geboren. Damals verwahrte das Bäckereiunternehmen Puratos in Sankt Vith 43 Sauerteige, allerdings nur in einem Labor. Vergleichbar mit der Saatgutbank für Nutzpflanzen im norwegischen Spitzbergen sollte die Artenvielfalt der besten Sauerteigkulturen aus der ganzen Welt gelagert und geschützt werden. „Dann haben wir gesagt, wir wollen noch mehr von den Prozessen, die verloren gehen können, erhalten“, erzählt Karl de Smedt, Leiter der Sauerteigbibliothek, ORF.at aus der Entstehungsgeschichte und verweist auf die vielen individuellen Geschichten von Brot und seinen Bäckerinnen und Bäckern.

„Wir dachten, wenn wir eine richtige Bibliothek haben, dann wissen die Leute, dass sie uns ihren Sauerteig schicken können“, so de Smedt weiter, der gelernter Bäcker ist. Heute zählt der selbst ernannte Sauerteigbibliothekar etwa 2.000 Teige in seiner Onlinebibliothek, in der jeder einen Eintrag machen kann, und rund 130 ausgewählte Besonderheiten aus 23 Ländern sicher und akribisch katalogisiert hinter verschlossenen Kühlschranktüren.

Sauerteig im Glas
ORF.at/Christina Vogler
Jeder Teig erhält eine Nummer, damit auch nichts durcheinanderkommt

Um in diesen engsten Kreis aufgenommen zu werden, müssen die Teige den Experten besonders überzeugen. Entscheidend seien Kriterien wie etwa das Alter eines Sauerteigs, Mehl bzw. Getreide, Herkunft, individuelle Inhaltsstoffe und vieles mehr. Und das Grundkriterium: „Der Teig muss durch spontane Gärung entstanden sein“, erklärt de Smedt, also ein echter Sauerteig sein.

„Nicht jeder schafft es nach Sankt Vith“

Derzeit befinden sich allein 39 Sauerteige aus Italien in der Bibliothek, aber auch etliche Proben aus Nord- und Südamerika sowie Asien. Jedes Jahr analysiert man 24 weitere, die infrage kommen, aufgenommen zu werden. Derzeit bewahre man hauptsächlich Weizenteige auf, weshalb das Interesse an Exemplaren aus Roggen- und Vollkornmehl groß sei.

Zu den besonderen Sauerteigen der Sammlung zählt derzeit ein über 100 Jahre alter Teig aus Kanada. Gut möglich aber, dass es in der Bibliothek noch weitaus ältere Teige gebe, vermutet de Smedt. Viele hätten nie aufgezeichnet, wie alt ihr Sauerteig, der von Generation zu Generation weitergegeben worden sei, wirklich sei. Doch auch jüngere Teige, beispielsweise aus Nahost, in denen man Spuren von Kichererbsen, Weintrauben und Honig gefunden habe, haben ob dieser Besonderheiten schon ihren Platz in der Bibliothek gefunden.

Bäcker in Backstube
ORF.at/Christina Vogler
Bei der Fütterung hilft das ganze Team – im Hintergrund die nummerierten Kübel mit dem Mehl der Bäcker aus aller Welt

Auch ein siebenjähriger Roggensauerteig der Bäckerei Haubenberger aus Österreich ist in der Sammlung vertreten, die Nummer 95. „Für uns ist die Bibliothek wie eine ‚Sicherung‘ von unserem wertvollen Sauerteig“, so Harald Affengruber, Unternehmensleiter der Haubis GmbH in Petzenkirchen in Niederösterreich, zu ORF.at. „Da es nicht jeder Sauerteig in den Olymp nach Sankt Vith schafft, sind wir stolz darauf, unseren Sauerteig auf internationaler Ebene ‚abgesichert‘ zu haben.“ Besonders stolz sei man darauf, der erste österreichische Bäcker zu sein, der in der Bibliothek vertreten ist.

Roberta, Vitus, Kosmas und Co.

Dass ein Sauerteig durch seine oftmals jahrzehntelange Geschichte eine „Seele“ habe, wie Experte de Smedt schwärmt, zeigt sich nicht nur in Geruch und Geschmack, sondern auch darin, dass viele Bäckerinnen und Bäcker ihrem Sauerteig sogar einen Namen geben. „Es ist wie ein Kind. Einmal geht es gut und einmal geht es schlecht“, scherzt de Smedt über das Backen und Pflegen von Sauerteig. Zwar müssten Roberta, Vitus, Kosmas und Co. als Mitglieder der Teigsammlung nur alle zwei Monate gefüttert werden – die Fütterung an sich ist ob der Vielzahl an Teigen in der Bibliothek allerdings aufwendig und dauert mehrere Stunden.

„Vergisst man, die Sauerteige zu füttern, sterben sie“, so der Experte. Damit das nicht passiere, müssten sechsmal im Jahr auch alle im Team der Bibliothek mit anpacken – vom Bäckermeister, über den Social-Media-Manager bis hin zur Reinigungskraft. Das ganze Team helfe bei der Fütterung, die nach über zehn Jahren Erfahrung aber schon sehr routiniert ablaufe, erzählt der Sauerteigbibliothekar, der bei jeder Fütterung persönlich anwesend sein will: „Ich trage mir das in meinem Kalender ein, und wenn ich weiß, dass da Fütterung ist, dann kann ich nicht in den Urlaub fahren.“

Jedem Sauerteig sein eigenes Mehl

Abgesehen davon, dass einige in der Bibliothek repräsentierte Bäckereien auch Kunden von Puratos sind, ist die Aufbewahrung und Fütterung der Teige für die Bäckerinnen und Bäcker kostenlos. De Smedt hält fest, dass man die Bibliothek unabhängig von jeglicher Verkaufsstrategie führe, sondern rein als Bewahrung von Geschichte und Wissenschaft sehe.

Bäcker in Backstube
ORF.at/Christina Vogler
Im Notfall gibt es immer noch die Mikroorganismen im Labor. So kann jeder Teig wiederhergestellt werden.

„Wir haben hier die Teige sowohl von Privatpersonen als auch von Betrieben“, so der Experte. „Das einzige, was mir die Leute garantieren müssen, ist, dass sie mir jedes Jahr eine Tüte von ihrem Mehl schicken, denn mit diesem Mehl erhalte ich den Sauerteig.“ Man könne zur Fütterung nämlich nicht einfach irgendein Mehl verwenden, da sonst ein komplett anderer Teig entstehen würde. „Es muss das gleiche Mehl wie immer sein“, sagt de Smedt.

„Back-up“ in Bibliothek und Labor

Neben der Aufbewahrung und Fütterung in der Großbäckerei werden Proben der Teige und ihre Mikroorganismen auch im Labor aufbewahrt. Als mehrfaches „Back-up“ bezeichnet das der Sauerteigbibliothekar – für den Notfall. Dass aber jemand einmal einen Kübel mit Mehl umgestoßen oder ein Glas fallengelassen hätte, sei bisher noch nie passiert – dass ein Bäcker sein Sackerl mit Mehl zur Fütterung nicht geschickt habe, hingegen schon.

Das sei zwar mühsam, aber wegen der aufbewahrten Mikroorganismen im Labor zumindest kein unlösbares Problem. So sei prinzipiell jeder Teig wieder herstellbar. „Das ist die Bewahrung der Biodiversität“, so de Smedt und verweist auf die Ursprungsidee der Bibliothek: „Sollte zum Beispiel die Bäckerei eines Bäckers irgendwo in Italien abbrennen, dann kann er durch uns in wenigen Tagen wieder seinen Sauerteig haben.“