Wells’ Story ging in etwa so: Ein Wissenschaftler experimentiert mit einer Farbe, die unsichtbar machen soll. Der Selbstversuch glückt – ist aber irreversibel. Nur mit Bandagen am ganzen Körper kann er sich fortan sichtbar machen. Zuerst ist der Forscher nur verstört, dann nutzt er die Unsichtbarkeit, um Verbrechen zu begehen. Schließlich wird er von einem Mob gelyncht.
Dass Kunstschaffende mit Originalen recht frei umgehen, wenn sie die Inhalte aufgreifen und neu formen, ist üblich. Von Wells’ Buch jedoch blieben in jeder neuen Fassung wirklich nur einzelne Versatzstücke, etwa Griffin – der Name des Wissenschaftlers –, die gruselige Grundstimmung und das Unsichtbarwerden. Von der 1993er-Verfilmung über die Sowjetversion bis zu dieser Variante des australischen Regisseurs Leigh Whannell wurden die Ängste der jeweiligen Zeit verarbeitet.
Die totale Überwachung
Heute fürchtet man die totale Überwachung, das Immer-und-überall-gesehen-Werden, ständige Kontrolle, wie sie in China Schritt für Schritt umgesetzt wird, wobei etwa auch Großbritannien mit Überwachungskameras regelrecht übersät ist. Doch im aktuellen Thriller „Der Unsichtbare“ kommt es viel schlimmer. Die Hochspannung konzentriert sich auf eine Person – die von Moss großartig gespielte Cecilia.
Sie wird von ihrem Mann Adrian Griffin (Oliver Jackson-Cohen), einem steinreichen Experten optischer Systeme, im Haus festgehalten und mit Kameras akribisch überwacht. Eines Nachts gelingt ihr die Flucht. Drei Wochen später erhält sie die Information, dass sich Adrian selbst getötet hat. Doch schon bald geschehen seltsame Dinge rund um Cecilia.
Gänsehautgarantie bis zuletzt
Sie denkt, Adrian ist zurückgekommen, entweder als Geist, oder er hat seinen Suizid nur vorgetäuscht. Doch niemand nimmt die Frau ernst. Als schließlich Morde geschehen, gerät Cecilia unter Verdacht. Wurde sie von Adrians Überwachung so verstört, dass sie nun durchdreht? Oder hat Adrian am Ende eine Methode gefunden, sich unsichtbar zu machen und rächt sich für ihre Flucht?
Whannells Film besticht von der ersten Minute an durch seinen flirrenden Suspense, zu dem die Musik, die düsteren Bilder und das Setdesign beitragen. Ursprünglich sollte Johnny Depp Adrian spielen – aber man vermisst ihn hier nicht. Und das Drehbuch lässt jede Szene mit einem bedrohlichen Cliffhanger für die nächste enden – Gänsehautgarantie bis zum überraschenden Ende.
Psychologisch gefinkelte Charakterzeichnung
Whannell gilt nicht zu Unrecht als Horrorspezialist erster Güte. Als Drehbuchautor zeichnet er für die „Saw“- und die „Insidious“-Reihen verantwortlich, bei „Insidious 3“ hat er auch bereits Regie geführt. Als man ihm die Regie von „Der Unsichtbare“ überließ, hatte der Film bereits eine lange Geschichte. Zunächst sollte er Teil der „Dark Universe“-Monsterwelt werden und Johnny Depp den Adrian spielen.
Nach Jahren des Abwartens entschied man sich bei Universal jedoch dafür, den Film als Stand-Alone zu drehen. Es war gut, die psychologisch gefinkelte Charakterzeichnung der Figuren nicht einem Monster-Hau-Drauf zu opfern. Der Spannung tut das keinen Abbruch – im Gegenteil. „Der Unsichtbare“ ist definitiv schon jetzt ein Highlight im Horrorjahr 2020.