Zerstörte Häuser in der syrische Stadt Sarakeb in Idlib
APA/AFP/Omar Haj Kadour
Gegen syrische Armee

Türkische Angriffe in Idlib

Der Konflikt zwischen der Türkei und Syrien hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Nach einem Luftangriff auf die türkische Armee startete die Türkei in der Nacht auf Freitag mit Vergeltungsangriffen auf Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Zudem forderte Ankara den Beistand der NATO. Das US-Außenministerium stellte sich bereits hinter die Türkei.

Der Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Ömer Celik, forderte, die NATO müsse an der Seite der Türkei stehen. Gleichzeitig drohte er kaum verhohlen damit, syrischen Flüchtlingen im Land die Grenzen in Richtung Europa zu öffnen: „Unsere Flüchtlingspolitik bleibt dieselbe, aber hier haben wir eine Situation. Wir können die Flüchtlinge nicht mehr halten“, sagte er.

Die Türkei hat bereits mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und betont immer wieder, dass sie eine neue Flüchtlingswelle nicht hinnehmen werde. Die Offensive in Nordwestsyrien trieb seit Dezember fast eine Million Menschen in die Flucht. Einem Reuters-Bericht zufolge wird die Türkei syrische Flüchtlinge nicht mehr von der Flucht über Land oder See nach Europa abhalten. Die türkische Polizei, Küstenwache und Grenzschützer seien angewiesen worden, sich zurückzuhalten, meldete Reuters unter Berufung auf einen hochrangigen Insider.

Die syrische Stadt Sarakeb in Idlib wird von syrischen Rebellen bombardiert
APA/AFP/Aref Tammawi
Bei Luftangriffen der syrischen Armee starben mindestens 33 türkische Soldaten

„Tapfere Soldaten werden gerächt“

Bei einem Luftangriff Donnerstagabend in der nordwestsyrischen Provinz Idlib wurden nach türkischen Angaben mindestens 33 Soldaten getötet und 36 verletzt. Alle bekannten Ziele der syrischen Regierungstruppen in der Region seien von der türkischen Armee aus der Luft sowie vom Boden aus angegriffen worden, teilte der türkische Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun mit. „Unsere tapferen Soldaten werden gerächt werden“, sagte Altun. Die TÜrkei fordert zudem eine Flugverbotszone.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte kurz zuvor in einer Dringlichkeitssitzung mit Regierungsmitgliedern und Militärvertretern über die Lage in Idlib beraten. Da sei beschlossen worden, dass „das illegitime Regime, das die Waffenläufe“ auf die Soldaten gerichtet habe, auf „gleiche Weise“ angegriffen werde, so Altun.

Putin und Erdogan telefonierten

Mit den jüngsten Todesopfern sind in diesem Monat den türkischen Angaben zufolge mindestens 53 türkische Soldaten in Syrien getötet worden. Die Türkei hat im Rahmen eines im Jahr 2018 geschlossenen Abkommens mit Russland, dem wichtigsten Verbündeten des syrischen Regimes, zwölf militärische Beobachtungsposten in der Provinz Idlib – dem letzten großen Rebellengebiet in Syrien.

Eigentlich sollte dort in einer Deeskalationszone eine Waffenruhe gelten. Nach Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow diskutierten Erdogan und Russlands Präsident Wladimir Putin über die Durchführung von Abkommen. Beide hätten sich in einem Telefonat darauf verständigt, ein baldiges hochrangiges Treffen zu arrangieren.

Fehlgeschlagene Gespräche mit Russland

Erdogan hatte die Regierung in Damaskus wiederholt aufgefordert, ihre Truppen aus dem Umfeld der türkischen Posten abzuziehen, und mehrfach mit einem Militäreinsatz gedroht. Der türkische Staatschef setzte dafür eine Frist bis Monatsende, also bis Samstag. In Idlib und benachbarten Provinzen im Nordwesten Syriens geht die syrische Armee seit Dezember mit militärischer Unterstützung Russlands verstärkt gegen islamistische und dschihadistische Milizen vor.

Zerstörte Häuser in der syrische Stadt Sarakeb in Idlib
APA/AFP/Omar Haj Kadour
Die Stadt Sarakib wurde von Rebellen zurückerobert

Assad will die letzte Milizenhochburg im Land wieder unter seine Kontrolle bringen. Ein Teil der Rebellengruppen in Idlib wird von der Türkei unterstützt. Die Türkei hatte zuvor kurdische Milizen aus Nordsyrien vertrieben.

Assads Truppen brachten im Zuge der Offensive in den vergangenen Wochen mehrere Ortschaften in Idlib unter ihre Kontrolle. Die strategisch wichtige Stadt Sarakib eroberten von der Türkei unterstützte Milizen am Donnerstag zurück. Seit Wochen verhandeln die Türkei und Russland erfolglos über ein Ende der Offensive syrischer Truppen. Auch eine dritte Runde am Donnerstag in Ankara brachte keine Einigung.

Als Reaktion auf die türkischen Angriffe in der Türkei hieß es aus Moskau, dass sich die türkischen Truppen in den betreffenden Gebieten nicht hätten aufhalten dürfen. Die türkische Seite habe die Präsenz ihrer Truppen dort nicht mitgeteilt. Die türkischen Soldaten seien zum Zeitpunkt des syrischen Luftangriffs mit der Al-Kaida-nahen islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham unterwegs gewesen, hieß es am Freitag aus Moskau. Berichten zufolge sind zwei russische Fregatten mit Marschflugkörpern Richtung syrische Küste unterwegs.

Stoltenberg verurteilt syrische Luftangriffe

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief die Konfliktparteien dazu auf, die „gefährliche Lage“ zu entschärfen und eine weitere Verschlimmerung der „schrecklichen humanitären Situation“ in der Region zu vermeiden. In einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu verurteilte Stoltenberg laut Angaben einer Sprecherin die „rücksichtslosen“ Luftangriffe durch die syrischen Regierungstruppen.

Stoltenberg kündigte via Twitter ein NATO-Treffen für Freitag zum Artikel 4 an, um die Situation in Syrien zu besprechen. Im Artikel 4 heißt es: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ Artikel 4 kommt seit NATO-Gründung 1949 nun zum sechsten Mal in Anwendung – wie in den meisten Fällen wieder auf Verlangen der Türkei. Artikel 5, der den Bündnisfall ausrufen würde, wurde bisher einmal benutzt.

„Willkürliche Angriffe“

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres forderte eine umgehende Waffenruhe. In einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrat warf der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) Assad und Moskau Kriegsverbrechen in Nordwestsyrien vor. Die Armeen beider Länder bombardierten „zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen“. Russland und Syrien hätten als Konfliktparteien die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen, mahnte Maas: „Willkürliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen.“

Die EU rief zu einem sofortigen Ende der Eskalation in Syrien auf. Es gebe das Risiko einer „größeren, offenen internationalen militärischen Konfrontation“, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Freitag. Zugleich stellte er „alle nötigen Maßnahmen“ in Aussicht, um die Sicherheitsinteressen der EU zu schützen.

Kinder sterben an Unterkühlung

Seit Anfang Dezember sind nach UNO-Angaben rund 950.000 Menschen aus den umkämpften Gebieten in Nordwestsyrien geflohen, darunter eine halbe Million Kinder. Viele von ihnen leben unter katastrophalen Bedingungen in der Grenzregion zur Türkei. Kaltes Winterwetter verschärft die Lage. Zahlreiche Babys und Kinder sind an Unterkühlung gestorben. Hilfsorganisationen sprechen vom schlimmsten Flüchtlingsdrama seit Ausbruch des Bürgerkriegs vor fast neun Jahren. Der russische Botschafter bei der UNO, Wassili Nebensja, sagte jedoch, andere Sicherheitsratsmitglieder versuchten, „die Situation zu dramatisieren“.