Flüchtlinge auf dem Weg zur Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
AP/Ergin Yildiz
Flüchtlinge nach Europa

Türkei dementiert mit großem Aber

Die Türkei hat Freitagmittag Berichte zurückgewiesen, wonach sie den Flüchtlingen im Land die Grenzen Richtung Europa geöffnet habe. „In der Flüchtlings- und Migrationspolitik unseres Landes, das die meisten Flüchtlinge in der Welt aufgenommen hat, gibt es keine Änderung“, hieß es in einer am Freitag veröffentlichten Stellungnahme des Außenministeriumssprechers Hami Aksoy.

Er warnte aber, dass die Migrationsbewegungen in der Türkei Richtung Außengrenzen „im Falle einer Verschlechterung der Situation“ stetig zunehmen könnte. Die Entwicklungen in der syrischen Region Idlib und die Massenvertreibungen dort hätten „den Migrationsdruck, der auf unserem Land lastet“, noch erhöht. Das hätten auch die Flüchtlinge und Migranten im Land verfolgt, sodass sie nun angefangen hätten, „sich in Richtung unserer westlichen Grenzen zu bewegen“.

Nach einem Luftangriff auf türkische Truppen in Idlib mit mindestens 33 Toten waren in der Nacht vor allem über regierungsnahe Quellen entsprechende Aussagen aufgetaucht. In vielen Provinzen machten sich daraufhin Medien zufolge Menschen in Richtung Küstenprovinzen oder EU-Grenzübergänge auf den Weg.

Niemandsland zwischen Griechenland und der Türkei
AP/Ergin Yildiz
Flüchtlinge warten am Freitag am türkisch-griechischen Grenzübergang Pazarkule/Edirne

Griechenland und Bulgarien verstärken Grenzkontrollen

In Istanbul kamen Menschen Medien zufolge unter anderem im Stadtteil Zeytinburnu zusammen, um in Sammeltaxis und Bussen nach Edirne oder in Küstenorte zu fahren. Der türkische Sender TRT zeigte Szenen von Flüchtlingen, die im Morgengrauen an einem Strand standen oder über Felder gingen. Die Bilder ließen sich nicht unmittelbar verifizieren.

Griechenland und Bulgarien verschärften die Grenzkontrollen zur Türkei. „Griechenland hat die Bewachung seiner Grenzen zu Land und zu Wasser maximal verschärft“, hieß es am Freitag aus Regierungskreisen. Auch der griechische öffentlich-rechtliche Sender ERT berichtete, dass der Grenzübergang zur Türkei bei Kastanies bzw. Pazarkule geschlossen worden sei.

Reporter vor Ort berichteten, auf der griechischen Seite habe die Regierung zahlreiche Polizeikräfte und Grenzschutzbeamte sowie Militärs zusammengezogen. Hunderte Menschen sollen sich auf der türkischen Seite der Grenze versammelt haben. Laut dem Bericht soll es auch zum Einsatz von Pfefferspray und Tränengas gekommen sein. „Wir haben Daten über viel Gedränge“, sagte auch der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow. Die bulgarische Armee könnte 1.000 Soldaten in das Grenzgebiet entsenden.

Flüchtlingspakt: EU erhielt „Zusicherung“ von Türkei

Die EU hat nach den Worten ihres Außenbeauftragten Josep Borrell von der Türkei eine „Zusicherung“ erhalten, dass Ankara sich an seinen Teil des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei halten wird. Das teilte Borrell am Freitag nach einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu mit. „Deeskalation bleibt der Schlüssel, um Herausforderungen vor Ort effektiv anzugehen“, so Borrell. „Menschliches Leid und der Verlust von Menschenleben müssen aufhören“, forderte er.

Nehammer: Beobachten Lage genau

Reaktionen kamen auch aus Österreich: „Wir beobachten die Lage sehr genau“, sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Freitag. Man sei auch mit Regierungskollegen in Griechenland und Bulgarien in Kontakt. Er habe zu Mittag zudem mit EU-Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas gesprochen und ihm mitgeteilt, Österreich sei dazu bereit, die Länder auf der Balkan-Route auch mit zusätzlichen Polizisten zu unterstützen. Nehammer sagte, dass sich eine Flüchtlingssituation an Österreichs Grenzen wie im Jahr 2015 „nicht wiederholen“ dürfe. „Ziel muss sein, die Menschen an den Außengrenzen anzuhalten und nicht durchzuwinken.“

Andreas Pfeifer erklärt die Zusammenhänge

Andreas Pfeifer, Leiter der ORF-Auslandsredaktion, analysiert die Lage in Syrien und wie das mit Flüchtlingen in der Türkei und Versäumnissen der EU zusammenhängt.

„Wir vertrauen darauf, dass die Türkei pakttreu ist“, so Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). „Es wird seitens der EU mit der Türkei nach dieser Aussage Gespräche geben“, kündigte er an.

FPÖ-Chef Norbert Hofer forderte die Regierung auf zu sagen, „wie Österreich gedenkt, mit einem neuerlichen Ansturm von Flüchtlingen umzugehen“. NEOS forderte eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU. „Der Konflikt zeige einmal mehr: Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU muss weg, weil wir sonst als EU nicht handlungsfähiger Partner sind“, hieß es in einer Aussendung.

AKP-Sprecher: Wir können die Flüchtling nicht mehr halten

Davor hatte ein hoher türkischer Beamter gesagt, die Türkei werde syrische Flüchtlinge nicht länger von der Flucht über Land oder See nach Europa abhalten. Die türkische Polizei, Küstenwache und Grenzschützer seien angewiesen worden, sich zurückzuhalten, hatte der Insider gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters gesagt. „Alle Flüchtlinge, auch Syrer, dürfen nun in die Europäische Union.“ Ein Land allein könne die Last nicht tragen.

„Unsere Flüchtlingspolitik bleibt dieselbe, aber hier haben wir eine Situation: Wir können die Flüchtlinge nicht mehr halten“, sagte AKP-Sprecher Ömer Celik: „Es gibt nur eine Sache, die die Europäische Union tun kann, und das ist, der Türkei zu helfen“, fügte der hinzu. Ende vergangenen Jahres hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Öffnung der Grenzen gedroht.

Fast eine Million Menschen auf der Flucht

In der syrischen Grenzprovinz Idlib sind wegen der Kämpfe zwischen Rebellen und der syrischen Armee fast eine Million Menschen auf der Flucht. Die Situation ist laut NGOs und UNO dramatisch. Laut NGOs erfroren mehrere Kinder auf der Flucht. Die Türkei kämpft in Syrien Seite an Seite mit teils islamistischen Rebellen. Ihnen stehen die Truppen des syrischen Regimes gegenüber, das mit Russland und dem Iran verbündet ist.

Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
Ein Flüchtlingslager mit selbst gebauten Unterkünften auf der griechischen Insel Lesbos

Der NATO-Rat kam am Freitag in Brüssel auf Antrag der Türkei zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnte davor, „in eine große, offene, internationale militärische Konfrontation zu rutschen“. Die EU werde alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz ihrer Sicherheitsinteressen prüfen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, die Bündnispartner stünden solidarisch zur Türkei. „Wir rufen Russland und das syrische Regime dazu auf, die rücksichtslosen Luftangriffe zu stoppen.“ Auch müssten sie das Völkerrecht achten.

Die Türkei forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, eine Flugverbotszone in Syrien einzurichten. „Die internationale Gemeinschaft muss handeln, um Zivilisten zu schützen, und eine Flugverbotszone einrichten“, schrieb der Kommunikationsdirektor von Erdogan, Fahrettin Altun, am Freitag auf Twitter. Auch der UNO-Sicherheitsrat soll sich noch am Freitag mit der eskalierenden Situation auseinandersetzen. Nach Informationen der dpa dürften bei der offenen Sitzung auch Vertreter der Türkei und Syriens sprechen.

Unterdessen wurde auch bekannt, dass sich Kremlchef Wladimir Putin und Erdogan kommende Woche in Moskau treffen wollen. Der Termin sei entweder am 5. oder am 6. März in der russischen Hauptstadt, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Zuvor hatten die beiden Staatschefs bereits telefoniert und ein Treffen – ohne Details – ankündigen lassen. Sie zeigten sich nach Kreml-Angaben ernsthaft besorgt wegen der Lage in Idlib.

3,6 Mio. Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei

Die Türkei hat in den vergangenen Jahren fast 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, wo 2011 ein Bürgerkrieg begonnen hat, aufgenommen, zuletzt aber ihre Grenzen geschlossen. 2015/16 kamen Hunderttausende Menschen aus Syrien, aber auch anderen Staaten Asiens und Afrikas nach Europa.

Karte Syrien und Nachbarländer, Zahl der Flüchtlinge
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: UNHCR

Die EU sagte Ankara 2016 daraufhin sechs Milliarden Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei zu. Das war Teil eines Flüchtlingspakts, der die türkische Seite verpflichtete, alle neu auf den griechischen Inseln ankommenden Geflüchteten zurückzunehmen und stärker gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die Türkei kritisierte die Auszahlung der Gelder regelmäßig als zu langsam, Erdogan drohte auch mehrfach mit der Aufkündigung des Paktes. Die EU wies die Vorwürfe zurück.