Flüchtlinge an der griechischen Grenze
AP/IHA/Ismail Coskun
Druckmittel gegen EU

Türkei öffnet Grenzen für Flüchtlinge

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan will ungeachtet der Vereinbarungen mit Brüssel Tausende Flüchtlinge die Grenzen zur EU passieren lassen. „Wir haben die Tore geöffnet“, sagte Erdogan am Samstag in Istanbul und warf der EU vor, sich nicht an die Zusagen im Flüchtlingspakt gehalten zu haben. Laut Erdogan sind seit Freitag bereits 18.000 Flüchtlinge an die türkischen Grenzen zur EU gekommen – bis zu 30.000 könnten das Land verlassen, sagt er.

„Wir werden die Türen in nächster Zeit nicht schließen, und das wird so weitergehen“, so der türkische Präsident. „Die Europäische Union muss ihre Zusagen einhalten. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns um so viele Flüchtlinge zu kümmern, sie zu versorgen.“ Erdogan sagte, die EU-Gelder für die Türkei zur Unterstützung der Flüchtlinge kämen zu langsam an. Er habe die deutsche Kanzlerin Angela Merkel darum gebeten, dass die Mittel direkt an die türkische Regierung übermittelt werden.

Am türkisch-griechischen Grenzübergang Kastanies-Pazarkule lieferten am Samstag griechische Polizisten und Tausende Flüchtlinge einander gewaltsame Auseinandersetzungen. Wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete, setzten die griechische Grenzpolizei und Sondereinheiten Tränengas und Blendgranaten ein, einige Flüchtlinge warfen mit Steinen.

Dutzende Festnahmen

Der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sagte nach einem Krisentreffen des Kabinetts von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis in Athen, griechische Grenzbeamte hätten am Freitag mehr als 4.000 illegale Grenzübertritte verhindert.

Zudem seien 66 Personen festgenommen worden, die griechisches Territorium betreten hatten. Griechenland verstärke seine Kontrollen auch vor den Inseln im Osten der Ägäis mit mehr als 50 Schiffen der Küstenwache und der Kriegsmarine, sagte der Sprecher. „Wir haben gehalten, und unsere Grenzen, die auch EU-Grenzen sind, beschützt“, sagte der Sprecher.

Flüchtlinge an der griechischen Grenze
APA/AFP/Ozan Kose
Die Lage an der griechisch-türkischen Grenze ist angespannt

Borrell erhielt zuletzt noch „Zusicherung“

Ein ranghoher türkischer Regierungsvertreter hatte am Freitag gesagt, die Türkei werde ihre Grenzen für Flüchtlinge, „die nach Europa wollen“, nicht mehr schließen. Am Abend teilte dann aber der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Telefonat mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu via Twitter mit, die EU habe von der Türkei eine „Zusicherung“ erhalten, dass Ankara sich an seinen Teil des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei halten werde.

Bulgarien: „Null Migration“ an der Grenze zur Türkei

An Bulgariens EU-Außengrenze zur Türkei soll es nach Darstellung der bulgarischen Regierung keine Spannungen geben. „An unserer Grenze (zur Türkei) gibt es null Migration“, sagte Regierungschef Boiko Borissow am Samstag nach einem Bericht des öffentlich-rechtlichen TV.

Nach Berichten über Flüchtlingsbewegungen in der Türkei in EU-Richtung ordnete der bulgarische Verteidigungsminister Krassimir Karakatschanow am Samstag die Bereitschaft von 300 Soldaten und 50 Spezialkräfte an, um bei Bedarf an die türkische Grenze entsandt werden zu können. Insgesamt könnten 1.000 Soldaten geschickt werden, hieß es.

Borissow stellte zudem ein „großes Treffen“ in Bulgarien in Aussicht. Dabei sollen Entscheidungen zur Situation in der Region getroffen werden, sagte Borissow am Samstag in der bulgarischen Stadt Plowdiw einer Mitteilung der bulgarischen Regierung zufolge. Die Außenminister der EU wollen am Donnerstag bei einem informellen Treffen in Kroatiens Hauptstadt Zagreb über die Türkei beraten.

Kurz: Situation wie 2015 darf sich nicht wiederholen

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) forderte anlässlich der neuen Situation einen ordentlichen EU-Außengrenzschutz ein. „Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen. Unser Ziel muss es sein, die EU-Außengrenzen ordentlich zu schützen, illegale Migranten dort zu stoppen und nicht weiterzuwinken“, so Kurz am Samstag in einer Aussendung.

Österreich sei bereit, die Länder an der Außengrenze mit zusätzlichen Polizisten zu unterstützen, wie auch Innenminister Nehammer (ÖVP) bereits am Freitag betont habe, so Kurz weiter. „Wir stehen in laufendem Kontakt mit unseren Partnern in der EU und entlang der Westbalkan-Route. Wenn der Schutz der EU-Außengrenzen nicht gelingen sollte, dann wird Österreich seine Grenzen schützen“, so Kurz.

FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl forderte den Einsatz des griechischen Militärs. Der Europasprecher der Grünen, Michel Reimon, erklärte, die EU dürfe sich von der Türkei nicht erpressen lassen. Die NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon forderte ein ausreichendes EU-Budget für souveräne Grenzkontrollen.

Flüchtlingsabkommen steht seit 2016

Die EU und die Türkei hatten im März 2016 ein Flüchtlingsabkommen geschlossen, nachdem 2015 Hunderttausende Flüchtlinge über die Balkan-Route nach Zentraleuropa gekommen waren. Infolge des teils heftig kritisierten Flüchtlingspakts sank die Zahl der über die Türkei in die EU gelangenden Flüchtlinge und Migranten deutlich.

In dem Abkommen verpflichtete sich Ankara, alle neu auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommenden Flüchtlinge zurückzunehmen und stärker gegen Schlepperbanden vorzugehen. Die EU versprach im Gegenzug Milliardenhilfen, eine beschleunigte Visa-Erleichterung und die Modernisierung der Zollunion.

Offensive in Idlib

Die Zahl der Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien nimmt derzeit wieder zu, weil Machthaber Baschar al-Assad zusammen mit seinem Verbündeten Russland eine Offensive in der letzten Hochburg der Assad-Gegner in Idlib führt. Dort sind vor allem islamistische und dschihadistische Milizen aktiv, die teils von der Türkei unterstützt werden. Bei Luftangriffen in Idlib wurden am Donnerstag 36 türkische Soldaten getötet.

Erdogan richtete wegen des Konflikts am Samstag scharfe Warnungen an Russland und Syrien. In einem Telefonat mit Kreml-Chef Wladimir Putin am Freitag sagte er nach eigenen Angaben seinem russischen Kollegen: „‚Was macht Ihr dort? Wenn Ihr einen Stützpunkt aufbauen wollt, bitte, aber geht uns aus dem Weg. Lasst uns mit dem (syrischen) Regime allein.‘“ Erdogan drohte Syrien, dass es den „Preis zahlen“ werde für den Tod der türkischen Soldaten.

Erdogan verkündet Angriffe auf Ziele in Syrien

Am Samstag startete die Türkei umfassende Angriffe in Syrien. Dabei seien Lagerhäuser mit Chemiewaffen sowie Luftabwehrsysteme und Landebahnen zerstört worden, sagte Erdogan am Samstag. Mehrere Ziele, darunter auch Waffendepots und Flugzeughangars seien „unter schweren Beschuss genommen und zerstört“ worden, so Erdogan. Mehr als 300 Militärfahrzeuge seien zerstört worden, darunter mehr als 90 Panzer.

Nach der Tötung der türkischen Soldaten hatte Ankara mit Vergeltungsschlägen gedroht. Syrien könne es „auf die harte Tour lernen“, sagte der türkische UNO-Botschafter Feridun Hadi Sinirlioglu in einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats am Freitag.

Aktivisten: Türkei tötet 45 syrische Soldaten

Die syrische Regierung stritt die Behauptungen ab und warf Erdogan „irreführende“ Aussagen und Übertreibung vor. Wären in Syrien wirklich Chemiewaffenanlagen zerstört worden, hätte es in der umliegenden Gegend viele Tote gegeben, hieß es in einem Bericht der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA vom Samstag.

Bei den Angriffen wurden nach Angaben von Aktivisten auch mindestens 45 Soldaten der syrischen Regierung getötet. Die Türkei habe mit Kampfflugzeugen, Drohnen und Artillerie unter anderem Gegenden nahe der Städte Sarakib und Marat al-Numan angegriffen, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien am Samstag mit. Zudem hätten türkische Truppen mit Boden-Boden-Raketen Fabriken sowie eine Forschungseinrichtung östlich von Aleppo angegriffen. Angaben der Beobachtungsstelle, die sich auf ein Netzwerk aus Informanten in Syrien beruft, sind von unabhängiger Seite schwer überprüfbar.

Fast eine Million Menschen auf der Flucht

In Idlib sind wegen der Kämpfe zwischen Rebellen und der syrischen Armee fast eine Million Menschen auf der Flucht. Die Situation ist laut NGOs und UNO dramatisch. Laut NGOs erfroren mehrere Kinder auf der Flucht.

Karte Syrien und Nachbarländer, Zahl der Flüchtlinge
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: UNHCR

Die Türkei hat in den vergangenen Jahren fast 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, wo 2011 ein Bürgerkrieg begonnen hat, aufgenommen, zuletzt aber ihre Grenzen geschlossen. 2015/16 kamen Hunderttausende Menschen aus Syrien, aber auch aus anderen Staaten Asiens und Afrikas nach Europa.