Kollektion des Modestudenten Harikrishnan
Harikrishnan/London College of Fashion/Roger Dean
Latex

Permanentes Potenzial zur Provokation

Wenngleich Latex nie wirklich weg war – mit der heurigen Saison ist die Gummikleidung wieder voll zurück im Modebewusstsein. Und das auch außerhalb von Fetischgedanken. Bei den diversen Fashion Weeks hält das Material wieder Einzug. Latex kann tragbar sein oder Kunst, praktisch oder fantastisch. Kürzlich gelang einem Modestudenten in London der Durchbruch mit Latexpluderhosen, die allerhand Assoziationen wecken.

Latex ist vielfältig einsetzbar, vom Krankenhaus bis zum Swingerclub. Die Ursprünge der Herstellung liegen Jahrhunderte vor Christus in Mittelamerika. Erst im 19. Jahrhundert kam der Gummibaum als Rohstoff durch Schmuggel nach Europa, wie die Modehistorikerin Fiona Jardine der BBC sagte: "Als Gummi an bereits vorhandene Stoffe gebunden wurde, verbesserte es die Funktionalität von Mänteln, Kappen, Gamaschen und Kleiderschutz, als Reisen, öffentliche Versammlungen und städtisches Leben im Westen immer häufiger auftraten.“

Latex und Gummi für Kleidung und Reifen wurden so begehrt, dass grausamste Menschenrechtsverletzungen, etwa im von Belgien brutal beherrschten Kongo, verübt wurden. Erst später wurde Latex auch als lustfördernd verwendet. „Es ist der sinnlichste Stoff, den es gibt“, so Jardine, „weil er einzigartiges Aussehen, Geruch, Geschmack, Klang und Gefühl hat.“

Vom Catsuit zum Catwalk

Latex wurde durch Vorkommen in der Popkultur auch sukzessive bei den Massen beliebt. In den 1960er Jahren wurde Batmans Widersacherin Catwoman zum Fleisch gewordenen Bubentraum im Latex-Suit. In den modisch experimentierfreudigen 1980er Jahren kam das Material breitenwirksamer auf die Laufstege. In den 90er Jahren nutzte Madonna Latex in Musikvideos als Befreiungsschlag gegen moralisierende Angriffe. Die jüngste Renaissance feierte der Stoff erneut bei den Modeschauen der Welt, dieses Mal tausendfach verstärkt durch Soziale Netzwerke.

Yves Saint Laurent Winterkollektion
APA/AFP/Anne-Christine Poujoulat
Herbst/Winter 2020 bei Yves Saint Laurent: Latex glänzt auch im Halbdunkel

Models in Gummikleidung sah man jüngst bei Gucci, Vivienne Westwood, Balmain und Thierry Mugler. Auch Yves Saint Laurent setzte in Paris großteils auf Latex. Modeindustrielle wie Kim Kardashian setzen aus darstellerischen Gründen auf das Material, Designerinnen wie Stella McCartney wegen des Tierschutzes. Denn Latex, hergestellt aus Baumsaft, ist vegan und kann Leder oftmals ersetzen, ohne an Wirkung einzubüßen.

Hose durch das Fischauge

Latex machte auch jüngst einen noch unbekannten Designer zum neuen Stern am Modehimmel. Der 26-jährige indischstämmige Harikrishnan brachte mit Latex das Spiel mit Dimension und Perspektive auf den Laufsteg und wurde so schlagartig berühmt. Harikrishnan fertigte neben „Wearables“, also Tragbarem, auch aufblasbare Hosen aus Latex. Sie erinnern an Clowns, an Aladdin, die Band New Order und einiges mehr. Die aufgeplusterten Gummihosen Harikrishnans lösten unter Aficionados vor wenigen Tagen einen Instagram-Rausch aus.

Kollektion des Modestudenten Harikrishnan
Harikrishnan/London College of Fashion/Roger Dean
Die aufblasbaren Kreationen von Harikrishnan lösten starke Reaktionen aus

Der Modestudent hatte die Hosen im Rahmen der Abschlussshow des London College of Fashion präsentiert, zusammen mit zweiteiligen Perlenwesten und Bolerojacken. Sein Hund habe ihm die Inspiration geliefert, sagte Harikrishnan gegenüber der britischen Modezeitschrift „i-D“: „Ich war mir dessen bewusst, wie sich das Sehvermögen des Hundes im Vergleich zum Menschen unterscheidet. Aber der interessante Aspekt war die Übertreibung eines Objekts, wenn man aus einem so niedrigen Winkel schaut, es erinnerte mich an den Blick durch das Fischauge“, so Harikrishnan.

Latex sorgt noch immer für Aufmerksamkeit

„Ich wollte die Essenz der menschlichen Form in einer Dimension suchen, die über das Normale hinausgeht – aber nicht grotesk.“ Die Latexhosen feierten „die Extreme der menschlichen Form“. Er habe keine Fetisch-Mode schaffen wollen, so Harikrishnan. „Sobald man Latex verwendet, entsteht sofort eine Fetisch-Atmosphäre. Das wollte ich von Anfang an vermeiden und ich musste mit Mustern und Farben experimentieren.“ Und obwohl bereits große Labels angeklopft hätten, habe er keine Veranlassung, die Hosen in großem Stil zu verkaufen.

Kim Kardashian in Paris
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„Das Outfit von Balmain ist typisch für Kardashian“, so der „Guardian“: „Körperbetont und plakativ für Soziale Netzwerke“.

Dass Latexbekleidung dennoch ihren Weg in die Kleiderkästen finden wird, darüber sind sich Blogger und Presse relativ einig. Denn das Material vermag als eines der wenigen noch zu schockieren und Aufmerksamkeit zu erregen – nicht zuletzt dadurch zeigen Instagram-Ikonen wie Kardashian in letzter Zeit mit Vorliebe hautenge Gummibekleidung.

Professor David Tyler vom Manchester Fashion Institute erklärte am Dienstag dem britischen „Guardian“, wieso Latex noch immer für Wirbel sorgt: „Es ist seine Fähigkeit, eine zweite Haut zu sein und gleichzeitig Form zu enthüllen.“ Latex habe eine subversive und erregende Natur. „Gutes Design lässt eine ästhetische Reaktion erkennen“, so Tyler. Latex störe Standards, so der „Guardian“, es schaffe Kontroversen.