Zufahrt zum Cremona Spital im Norden Italiens.
AP/Lapresse/Claudio Furlan
Coronavirus in der Lombardei

Sorge um Gesundheitssystem

Das lombardische Gesundheitssystem kämpft gegen den Zusammenbruch unter der zunehmenden Zahl von Coronavirus-Infektionsfällen. „Wir sind gezwungen, sogar in den Gängen der Spitäler Betten aufzustellen. Wir haben ganze Teile der Krankenhäuser umgebaut, um Platz für Patienten auf den Intensivstationen zu schaffen“, sagte Antonio Pesenti, Leiter der lombardischen Kriseneinheit für Intensivtherapien.

In der norditalienischen Region starben mit Stand Sonntag insgesamt 257 Menschen am Coronavirus. Binnen 24 Stunden stieg die Zahl von Samstag auf Sonntag um mehr als 100 Personen. Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, haben die Behörden unter anderem die Lombardei mit der Finanzmetropole Mailand abgeriegelt. Bis 3. April darf die Region weder betreten noch verlassen werden, kündigte die italienische Regierung am Sonntag an. In der Lombardei leben zehn Millionen Menschen.

Pesenti warnte im Interview mit der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“ (Sonntag-Ausgabe), dass das Gesundheitssystem an seine Grenze stoßen könnte. „Wenn die Bevölkerung nicht begreift, dass man zu Hause bleiben muss, um Ansteckungen zu vermeiden, wird die Lage katastrophal werden. Die Situation ist derart akut, dass die Zahl der Plätze auf den Intensivstationen der Krankenhäuser um das Zehnfache aufgestockt werden müsste“, sagte er.

Behörden erstellen Modellrechnungen

Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten des Gesundheitssystems könnten Patienten und Patientinnen auch auf Krankenhäuser anderer Regionen verteilt werden, teilte die Regierung am Sonntag mit. Diese Pläne seien nur schwer umsetzbar, sagte Flavia Petrini, Präsidentin des Ärzteverbandes SIAARTI, im Interview mit der römischen Tageszeitung „La Repubblica“ (Sonntag-Ausgabe). Dafür sei Personal notwendig, über das man zurzeit nicht verfüge.

Die Gesundheitsbehörden rechnen damit, dass bis 26. März 18.000 Menschen in der Lombardei am Coronavirus erkrankt sein werden. Davon könnten bis zu 3.200 Patienten und Patientinnen die Behandlung auf der Intensivstation benötigen. Das sind dreimal mehr als derzeit. Das lombardische Gesundheitswesen, das zu den fortgeschrittensten weltweit zähle, sei nicht mehr in der Lage, seine Qualitätsstandards zu garantieren.

Angesichts der Zahl von Infizierten könnten Ärzte und Ärztinnen bald gezwungen sein, Patienten und Patientinnen mit „besseren Lebenserwartungen“ Vorrang bei Behandlungen auf Intensivstationen zu geben, warnte Petrini. „In der Lombardei ist die Lage dramatisch, und viele Ärzte dürfen bei schwierigen Beschlüssen nicht allein gelassen werden“, sagte Petrini.

Italien stellt 16 Millionen unter Quarantäne

Innerhalb eines Tages sind mehr als 100 Personen in Norditalien am Coronavirus gestorben. Italien zählt damit bereits 366 Tote.

Personal aus dem Ruhestand zurückgerufen

Das Personal in den lombardischen Spitälern wird knapper: Viele von ihnen hätten sich infiziert oder seien unter Quarantäne, hieß es. Davor hatten die auf den Intensivstationen eingesetzten Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen gewarnt, dass sich trotz des großen Engagements des Personals die Epidemie weiterhin ausbreite.

Grafik zu Coronavirus-Schutzmaßnahmen
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Wegen der Personalknappheit wurden Ärzte und Ärztinnen aus dem Ruhestand zurückgerufen. Die italienische Regierung begann am Samstag landesweit, Ruheständler zu reaktivieren. Diese Maßnahme ist Teil eines neuen Notprogramms, das bei einer bis in die Nacht dauernden Krisensitzung des Kabinetts beschlossen wurde.

Insgesamt sollen 20.000 neue Kräfte für das Gesundheitssystem eingestellt werden. Bei den 20.000 Neueinstellungen soll es sich um 5.000 spezialisierte Ärzte und Ärztinnen sowie 15.000 Krankenpflegekräfte und weitere Helfer und Helferinnen handeln. Nach den Beschlüssen des Kabinetts soll in den kommenden Tagen zudem die Zahl der Betten in den Intensivstationen von 5.000 auf 7.500 erhöht werden.

Folgen für Wirtschaft befürchtet

Italien ist der Staat in Europa mit den meisten bestätigten SARS-CoV-2-Infektionen. Die Zahl der Infizierten und Toten steigt trotz umfangreicher Gegenmaßnahmen. Am meisten betroffen ist die Lombardei gefolgt von der Emilia-Romagna und Venetien. Die Region Venetien und einige Bürgermeister der betroffenen Städte halten das beschlossene Ein- und Ausreiseverbot allerdings für eine zu strenge Maßnahme.

Angehörige der Insassen scharen sich um das Poggioreale Gefängnis in Neapel.
Reuters/Ciro De Luca
Vor einigen Gefängnissen versammelten sich Angehörige von Insassen, um die Maßnahmen in Italien zu kritisieren

Die Gefahr sei, dass die norditalienische Wirtschaft ganz zum Erliegen komme. Der Bürgermeister der piemontesischen Stadt Asti, Maurizio Rasero, meinte etwa, die sanitäre Lage sei in seiner Provinz unter Kontrolle. Die Sperrzone auf seine Provinz auszudehnen sei daher ungerechtfertigt.

Viele Bürger bangen um ihren Job, vor allem im Tourismus, im Kulturbereich und in der Industrie. Auch die Logistik- und Transportbranche befürchtet Einschränkungen wegen der Quarantäne. Menschen, die in Richtung Mittel- und Süditalien reisen wollen, bestürmten am Sonntag Busstationen in der Lombardei. Der italienische Handelsverband Confcommercio forderte die Menschen auf, Supermärkte aus Angst vor knapp werdenden Lebensmitteln nicht zu stürmen.

Drei Tote bei Gefängnisrevolte

Wegen des Coronavirus beschlossene Restriktionen in Gefängnissen führten unterdessen zu Revolten in mehreren italienischen Gefängnissen. Drei Insassen kamen in einer Strafanstalt in Modena am Sonntag ums Leben, zwei weitere Gefängnisinsassen liegen in kritischem Zustand im Krankenhaus, berichtete die römische Tageszeitung „La Repubblica“ (Onlineausgabe).

Die Insassen sollen gegen Einschränkungen für den Besuch von Angehörigen protestiert haben. Nicht ausgeschlossen ist, dass Schlägereien zwischen Gefängnisinsassen ausgebrochen seien, die mit dem Protest nicht einverstanden waren.

Zu Revolten kam es auch in Haftanstalten in Alessandria, Pavia, Frosinone und Neapel. In dem Gefängnis in Pavia südlich von Mailand nahmen Häftlinge laut italienischen Medien zeitweise zwei Wärter als Geiseln. Sie stahlen den Wärtern die Schlüssel der Zellen und befreiten Dutzende Insassen, berichtete die Polizeigewerkschaft UILPA, die von Verwüstungen in der Strafanstalt sprachen. Wärter aus den Gefängnissen San Vittore und Opera wurden nach Pavia entsendet, um die Revolte unter Kontrolle zu bringen.

Conte: „Unsere dunkelste Stunde“

Der italienische Premier Giuseppe Conte verteidigte die drakonischen Maßnahmen seiner Regierung indes. „Das ist unsere dunkelste Stunde, doch wir werden es schaffen“, sagte Conte im Interview mit der römischen Tageszeitung „La Repubblica"(Montag-Ausgabe). "Es ist schwierig, in der jetzigen Phase Prognosen zu machen. Wir stehen vor einem neuartigen Virus“, so Conte.

„Die Regierung koordiniert mit Intensität und höchster Konzentration die organisatorische Maschinerie. Wir wollen die Virusverbreitung eingrenzen und die Gesundheitsstrukturen stärken, damit sie diese Herausforderung bewältigen können. Wir sind ein starkes Land“, sagte der parteilose Regierungschef. Conte appellierte zudem an die Italiener, ihren Lebensstil zu ändern und auf soziale Kontakte zu verzichten. Nachdem sich der Chef der sozialdemokratischen Regierungspartei PD, Nicola Zingaretti, mit dem Coronavirus infiziert hatte, unterzog sich Conte ebenfalls einem Test – das Ergebnis sei negativ, sagte er.