Euromünze auf EU-Fahne
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Corona-Hilfsprogramm der EU

Mühsam berechnete Milliarden

Die EU-Kommission will mit einem 25 Mrd.-Euro-Fonds die wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus abfedern. Doch soll das Geld nicht einfach an die Staaten ausgezahlt werden: Es handelt sich um nicht in Anspruch genommene Mittel des Struktur- und Investitionsfonds, die nun von den Mitgliedsländern nicht an die EU zurückgezahlt werden müssen. Das sei zu wenig, sagen Kritikerinnen und Kritiker.

Die Mitgliedsstaaten sollen laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verpflichtet werden, diese vorfinanzierten Beträge dafür aufzuwenden, „Investitionen im Rahmen des Strukturfonds voranzutreiben“. „Dazu werde ich dem Rat und dem Parlament in dieser Woche vorschlagen, 7,5 Mrd. Euro an Investitionen freizusetzen“, so die Kommissionspräsidentin.

Freilich liegt es aber an den Mitgliedsstaaten selbst, wie und wo genau das Geld verwendet wird. Der Rest solle jedenfalls, so von der Leyen, durch Beiträge der betroffenen Mitgliedsstaaten finanziert werden. Konkrete Vorschläge dazu will sie bei einem Treffen der Euro-Finanzminister am Montag unterbreiten.

Charles Michel während einer Videokonferenz
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Eine Konferenz der anderen Art, in naher Zukunft wohl häufiger: Per Video tauschte sich die EU-Spitze mit den Staats- und Regierungschefs aus.

Offenbar nicht zuletzt mit Blick auf das von der Epidemie besonders hart getroffene Italien sagte von der Leyen auch, ihre Behörde wolle die Flexibilität im Stabilitäts- und Wachstumspakt nutzen, um Regierungen bei Maßnahmen gegen die Krise finanziellen Spielraum zu geben. „Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, damit die europäische Wirtschaft diesem Sturm widersteht“, versicherte sie in einer Videokonferenz mit Ratspräsident Charles Michel und den Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedsstaaten am Dienstag.

„Es ist kein Corona-Fonds“

Viele Fragen sind offen, das zeigte auch das Mittagsbriefing der EU-Kommission für Medien am Mittwoch. Etwa was mit jenen Ländern passiert, die bereits ihr ganzes Geld aus dem Strukturfonds, das sie nun behalten dürfen, aufgebraucht haben. „Es ist kein Corona-Fonds, es ist eine Initiative. Es gibt keine neuen Gelder“, so ein Sprecher der EU-Kommission dazu. „Es werden Mittel genutzt, die da sind, die verfügbar sind.“ Konkretere Zahlen könne die Kommission noch keine nennen.

Fraglich ist dabei vor allem, nach welchem Verteilungsschlüssel die Kommission vorgehen will. Konkret: wer wie viel Geld nicht zurückzahlen muss. Zurzeit bezieht sich die Kommission ja auf den Gesamttopf, der allen Staaten gemeinsam zur Verfügung stehen soll. Doch würde eine Berechnung etwa rein nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gehen, könnte das bedeuten, dass Norditalien – also jene Region, die besonders stark vom Coronavirus betroffen ist – weniger bekommen könnte, da es zu den reichsten Regionen der EU gehört.

Kleinunternehmen, Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem

Von der Leyen will sich einerseits mit den Mitgliedsstaaten, andererseits mit der Europäischen Zentralbank (EZB) abstimmen. Das Hilfsprogramm solle unter anderem kleinere Unternehmen, den Arbeitsmarkt und die Gesundheitssysteme unterstützen, sagte sie. Auch eine Taskforce werde eingerichtet, „um mit den Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten und sicherzustellen, dass das Geld bereits in den kommenden Wochen zu fließen beginnt“, so die Kommissionspräsidentin.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde
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Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, muss bald wichtige Entscheidungen treffen

Täglich will sich die EU-Kommission nun via Telefonkonferenz mit den Gesundheits- sowie Innenministern und -ministerinnen austauschen sowie erforderliche Maßnahmen koordinieren. Darüber hinaus soll vonseiten der Kommission ein Team aus Expertinnen und Experten aus Epidemiologie und Virologie zusammengestellt werden, um Handlungsanweisungen auf europäischer Ebene zu erarbeiten. Weiters prüfe man derzeit die Verfügbarkeit von Schutzausstattung und Atemschutzmasken sowie die Kapazitäten zu deren Herstellung und Verteilung, wie es in einer Presseaussendung heißt.

Rat und Parlament müssen Änderung zustimmen

Im Bereich der Forschung und Entwicklung soll insbesondere die Finanzierung der gezielten Bekämpfung zum Coronavirus verstärkt werden. Darüber hinaus will die EU-Kommission 140 Mio. Euro an öffentlichen und privaten Mitteln zu Impfstoffen, Diagnose und Behandlung bereitstellen.

Von der Leyens Vorschlag, dass die Vorauszahlungen jetzt also nicht zurückgezahlt werden müssen, kann laut Kommission durch eine Änderung der Dachverordnung für die Strukturfonds umgesetzt werden. Das will die Kommission dem Rat und dem Parlament noch in dieser Woche unterbreiten. Die nationalen Programme müssten dann bei Bedarf entsprechend angepasst werden, um die Mittel gezielt in Bereichen einzusetzen, wie etwa Kurzarbeit, im Gesundheitsbereich und andere betroffene Sektoren.

Höhere Neuverschuldung erlauben?

Doch aus Sicht etlicher Expertinnen und Experten sind die 25 Mrd. Euro nicht genug. Schließlich sei es kein frisches Geld, sondern würde vom ohnehin knappen EU-Budget abgezweigt, kritisierte etwa der grüne EU-Haushaltsexperte Rasmus Andresen. Im Vergleich mit den USA erscheint der Betrag geradezu lächerlich: Dort überlegt man Steuererleichterungen von bis zu 700 Mrd. US-Dollar (620 Mrd. Euro). Die US-amerikanische Notenbank hat schon die Zinsen gesenkt.

Die Reaktion der EZB bleibt unterdessen abzuwarten, doch die Nullzinspolitik lässt wohl nur wenige Möglichkeiten. Expertinnen und Experten erwarten, dass die EZB neue günstige Geldspritzen für Banken beschließen könnte. Damit soll die Kreditvergabe an kleinere und mittlere Unternehmen angeschoben werden. Die EZB tagt am Donnerstag.

Leere Straße in Codogno in der Lombardei
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In Norditalien ist das öffentliche Leben weitgehend eingeschränkt

Der Ökonom Peter Bofinger von der Julius-Maximilians-Universität im deutschen Würzburg forderte Finanzspritzen für Italien. Die finanziellen Möglichkeiten der Regierung in Rom seien wegen der hohen Verschuldung des Landes begrenzt, sagte er. Denkbar sei, dem Land eine höhere Neuverschuldung zu erlauben. Über den europäischen Rettungsfonds (ESM) könne es zudem direkte Hilfen geben. Darüber müsse nachgedacht werden, so Bofinger. Das könne vor allem nötig werden, wenn auf dem Kapitalmarkt stark gegen Italien gewettet werden sollte und die Risikoprämien für italienische Staatsanleihen steigen sollten.

Vana: „Kann nur ein Anfang sein“

Die österreichischen EU-Parlamentsabgeordneten kommentierten von der Leyens Vorschlag gegenüber ORF.at und reagierten weitgehend im Konsens. „Wir stehen vor einer noch nie da gewesenen Krisensituation“, so Simone Schmiedtbauer, die für die ÖVP den zuständigen Regionalausschuss betreut. „Jede Maßnahme, die eine raschere, unbürokratische Verfügbarkeit von Fördermitteln in den Strukturfondsprogrammen und damit für die Projektträger ermöglicht, ist grundsätzlich zu begrüßen.“

Ähnlich reagierten die Grünen. „Die Verteilung ungenutzter Mittel aus dem Strukturfonds ist ein erster wichtiger Schritt“, so Monika Vana. „Jedoch können 7,5 Milliarden Euro nur ein Anfang sein, denn allein Italien investiert bereits deutlich mehr. Die Kommission muss ein umfangreicheres europäisches Investitionspaket vorlegen.“ Sie plädiere deshalb für gut ausgestattete EU-Behörden und größere Notfallreserven, „damit die EU in medizinischen, wirtschaftlichen und humanitären Krisen handlungsfähig ist.“

Mehrheit wahrscheinlich

Andreas Schieder von der SPÖ geht davon aus, „dass eine große Mehrheit im EU-Parlament die Milliardenhilfe unterstützt“. „Ganz Europa muss jetzt an einem Strang ziehen. Wer das inmitten dieser Krise nicht tut, hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Die EU muss einer Rezession entgegenwirken und in einem nächsten Schritt den Mitgliedsstaaten jede notwendige Flexibilität ermöglichen, mit solchen Krisen umzugehen“, so Schieder.

Das Büro der NEOS-Europaabgeordneten Claudia Gamon will sich mit einer Einschätzung noch nicht festlegen, wie das EU-Parlament abstimmen werde. Jedoch: Von der Leyens Vorschlag „macht unserer Ansicht nach Sinn und wir begrüßen diese Initiative“, nahm die Partei in einer E-Mail an ORF.at Stellung. Harald Vilimsky, FPÖ-Abgeordneter im EU-Parlament, bezeichnet einen Konsens als „wünschenswert und auch wichtig“. „Dennoch sollte im Rahmen konkreter Maßnahmen investiert und gehandelt werden, insbesondere wie man auf EU-Ebene eine weitere Ausbreitung verhindern kann“, so Vilimsky.

EU-Budget als Knackpunkt

Gerade unerwartete Ereignisse wie das Coronavirus sind es, die die EU-Kommission budgetär um Luft ringen lässt. „Das sind Dinge, die auf die Agenda kommen, die man nicht vorgesehen hat“, reagierte auch EU-Analyst Janis Emmanouilidis vom European Policy Center (EPC) zuletzt gegenüber ORF.at auf die ersten 100 Tage der Kommission von der Leyen. Insbesondere darf dabei eines nicht vergessen werden: Es gibt immer noch kein EU-Budget.

Solange es dieses nicht gibt, dürfte es zunehmend schwieriger werden, Investitionen in sämtlichen Bereichen anzukündigen bzw. einzuplanen. Ein Diskussionspapier der EU-Kommission sieht 1,069 Prozent der Wirtschaftsleistung vor, wobei ein Budgetsondergipfel gescheitert ist, da sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer nicht einigen konnten.

Von der Leyen warnte bereits mehrmals davor, die Entscheidung über das EU-Budget weiter zu verschieben. Ohne ein neues Budget würde Europa nicht in der Lage sein, zu reagieren, sagte von der Leyen. „Deshalb rufe ich die Mitgliedsstaaten dringend dazu auf, eine Einigung zu finden.“ Gelingt heuer keine Einigung mehr auf das EU-Mehrjahresbudget 2021-–2027, wird die Obergrenze von 2020 im nächsten Jahr fortgeschrieben. Die Kommission müsste einen entsprechenden Notfallplan vorlegen, der dann wieder vom Rat und dem EU-Parlament beschlossen werden müsste. Das könnte etwa bedeuten, dass etwaige EU-Programme nicht starten könnten.