Autorin Birgit Birnbacher
APA/Gert Eggenberger
Birgit Birnbachers neuer Roman

Der harte Weg zurück ins Leben

Die Bachmannpreisträgerin 2019 Birgit Birnbacher hat gerade ihren Roman „Ich an meiner Seite“ vorgelegt. Darin schildert sie mit feinem Sensorium für gesellschaftliche Verhältnisse, wie ein junger Ex-Häftling versucht, wieder Fuß zu fassen.

Erwachsen zu werden und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden ist schon unter normalen Bedingungen keine leichte Aufgabe. Wenn dann noch dazu etwas entgleist, kann man durchaus das Gefühl haben, abgehängt zu werden.

Für den 22-jährigen Arthur Galleij, der gerade 26 Monate im Gefängnis verbracht hat, ist die Sache noch deutlich schwieriger. Er befindet sich nun für zwölf Monate in einem Programm, das ihm helfen soll, sich einzugliedern, ihm „Struktur“ vermitteln soll.

„Nach Ablauf dieses Jahres wird draußen ein eisiger Wind wehen für die, die nichts vorzuweisen haben auf dem großen freien Markt. Der Arbeitsmarkt, der Partnermarkt, der Wohnungsmarkt. Egal, welchen Markt Arthur nimmt, er hat auf keinem dieser Märkte gute Karten“ heißt es im Roman.

Birgit Birnbacher
Bogenberger Autorenfotos
Birnbacher beweist ein Gespür für gesellschaftliche Verhältnisse

Sinnloser Strafvollzug

Die Geschichte rund um Arthur legt den Finger auf eine Wunde im demokratischen Gefüge. „Keine soziale Intervention in diesem Land kostet so viel und bringt so wenig wie der Strafvollzug“, erklärt an einer Stelle Konstantin Vogl alias „Börd“, der schrullige Sozialarbeiter, der für Arthur zuständig ist. „Ich spreche von Tätern ihres Kalibers: Kurzstrafen.“

Bis man lesen kann, was Arthur in den sinnlosen Strafvollzug gebracht hat, dauert es einige Zeit. Bis dahin entspinnt sich Arthurs Lebensgeschichte auf mehreren Zeitebenen. Einerseits die Vorgeschichte, die von einer Wohnsiedlung in Bischofshofen in ein Dorf nach Andalusien und wieder zurück nach Österreich und dann ins Gefängnis führt, und andererseits die Zeitebene, die von dem Jahr zwischen 2010 und 2011 erzählt, während Arthur von „Börd“ resozialisiert werden soll.

Die Vorgeschichte spricht Arthur für „Börd“ auf ein Tonband, die Erzählstimme gibt den Lesern mehr Informationen. So erfährt man, dass Arthurs Mutter und Stiefvater in Spanien eine Palliativstation betrieben haben.

Buchcover
Hanser Verlag
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite. Zsolnay Verlag, 269 Seiten, 23,70 Euro.

Einfühlsames Schreiben

Arthur war ein intelligentes und stilles Kind, das versucht hat sich anzupassen, um seine Familie glücklich zu machen. Es sind scheinbar schlichte Sätze, mit denen Birnbacher das Psychogramm ihres Protagonisten entfaltet. „Noch nie hat er ein so schönes Zuhause gehabt. Und auf einmal fällt es ihm auch gar nicht mehr schwer, es auszusprechen“, heißt es in zwei Sätzen, die tief blicken lassen.

Neben dieser großen Einfühlsamkeit, die das Schreiben der studierten Soziologin Birnbacher ausmacht, hat sie eine Begabung dafür, gesellschaftliche Schranken auszumachen und nachvollziehbar zu machen.

Arthur erleidet in Spanien einen furchtbaren Verlust, der ihn aus der Bahn wirft. Als er daraufhin nach Wien zieht, kommt er rasch in Geldnöte. Zu allem Überfluss wird auch noch von einem Hacker sein Konto leergeräumt.

Ein Beschädigter auf Abwegen

Um sich über Wasser zu halten, versucht sich Arthur selbst als Internetbetrüger – ein Versuch, der schiefgehen muss. Im Gefängnis erfährt er dann auch wenig Besserung, sondern rohe Gewalt. Doch auch für Arthur gibt es Hoffnung. Als er aus dem Gefängnis kommt, hilft ihm Gazetta, die die Rolle einer Ersatzmutter für ihn übernimmt.

Das ist eine geschickte dramaturgische Idee von Birnbacher. Gazetta hat Arthur im Luxushospiz seiner Eltern in Andalusien kennengelernt. Just dort, wo das klassische soziale Netz, die Familie, zerbricht, tut sich ein neues, bestehend aus Wahlverwandtschaften auf.

Eingelöste Erwartungen

Vergangenes Jahr gewann Birnbacher den Bachmannpreis mit ihrem Text „Der Schrank“. Er handelt von einer Ich-Erzählerin die in prekären Lebensverhältnissen in Salzburg lebt und an einer Studie zu „Lebensverhältnissen und Neue Arbeit“ teilnimmt. Als plötzlich ein Schrank im Stiegenhaus vor ihrer Tür auftaucht, beginnt ihr Alltag aus den Fugen zu geraten.

Lesung „Der Schrank“ beim Bachmannpreis 2019

Quelle: bachmannpreis.orf.at

Schon damals lobte die Jury den Text als „Mikrostudie der Lebensverhältnisse“ für seine „Kombination aus Humor und Empathie“. Der Juror Hubert Winkels meinte, der Text ergebe ein wunderbares Spiel mit einer Ordnung, in der wir alle stecken und die wiederhergestellt werden müsse. Die damals geschürten Erwartungen vermag „Ich an meiner Seite“ durchwegs einzulösen.

Soziologie und Literatur

Birnbacher steht mit ihrem soziologischen Blick in einer langen Tradition. So sahen Soziologen am Beginn des 20. Jahrhunderts Schriftsteller wie Honore de Balzac, der mit seinem Großprojekt „Die Menschliche Komödie“ die Lebensverhältnisse verschiedener Schichten und ihre Beziehung zueinander ausleuchtete, als Vorläufer ihrer Wissenschaft.

Inzwischen ist längst eine Art Arbeitsteilung eingetreten. „Soziologie und Literatur grasen auf derselben Weide und ernähren sich von der gleichen Nahrung, das heißt vom menschlichen Erleben der von Menschen konstruierten Welt“, sagte der anerkannte polnische Soziologe Zygmunt Bauman in einem Interview mit der „Zeit“.

Aber er macht auch Unterschiede fest: „Während die Soziologie versucht, das Leben auf eine Sammlung von Regeln zu reduzieren, demonstriert die Literatur die Vergeblichkeit dieser Absicht.“ Das ist es, was Birnbacher in „Ich an meiner Seite“ gelingt: das Sichtbarmachen von Einschränkungen und Verwerfungen mitten in unserer Gegenwart, die durch akademische Thesen allein nicht fassbar sind.