Mädchen experimentiert an einem Modellvulkan
Getty Images/Tetra images RF/Jamie Grill
Tinkering

Mit Forschergeist das Lernen verändern

Schülerinnen und Schüler für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern: Das wird seit Jahren auf den unterschiedlichsten Wegen versucht. Ein Zugang, der besonders viel Spaß macht, ist Tinkering – technisches Tüfteln und Basteln. Bisher eher aus der kreativen Maker-Szene bekannt, wird immer öfter auch in Schulen „getinkert“.

Ein mit Alufolie umwickelter Bauklotz wird umgestoßen und schließt dadurch einen Stromkreis. Der Stromkreis setzt einen Ventilator in Gang. Der Luftzug des Ventilators bringt einen Tennisball in Bewegung. Der Tennisball rollt durch eine leere Chipsdose – und auch er wird eine Reaktion auslösen. Denn wie bei umfallenden Dominosteinen folgt bei einer Kettenreaktionsmaschine ein Impuls auf den nächsten.

Das Schöne daran sei, dass dabei die verschiedensten physikalischen Mechanismen eingesetzt und der Kreativität keine Grenzen gesetzt werden, so Sarah Funk vom ScienceCenter-Netzwerk. Der Wiener Verein hat sich zum Ziel gesetzt, MINT-Fächer wie Mathematik, Physik und Chemie zu fördern und Wissenschaft für Kinder und Jugendliche auf leicht zugängliche Weise erlebbar zu machen.

Vier Minuten lang dauert etwa die Kettenreaktion in einem Video der US-Band OK Go. Das Prinzip der Kettenreaktionsmaschine, die eine Aufgabe in zahlreichen Einzelschritten ausführt, geht auf den US-Comiczeichner Rube Goldberg zurück.

Tüfteln, Basteln und Erfinden

Ausprobieren und Selbermachen – wie bei der Kettenreaktionsmaschine – ist beim Tinkering das Wichtigste. Das erinnert an Makerspaces, an jene offenen Werkstätten also, die es in vielen Städten weltweit gibt, und in denen sich Kreative zum Tüfteln, Basteln und Erfinden treffen. Zur Maker-Szene gibt es ein „absolutes Naheverhältnis“, so Funk im Gespräch mit ORF.at.

Tinkering

Als „Tinkerer“ wurden früher im englischsprachigen Raum mobile Handwerker bezeichnet, die Töpfe reparierten und kleinere Kupferschmiedearbeiten durchführten.

Tinkering könne als Vorstufe davon bezeichnet werden, „weil es darum geht, Interesse zu wecken, und weil Tinkering nicht so produktfokusiert wie das Maker-Movement ist“. Das ScienceCenter-Netzwerk möchte „jene spannenden Aktivitäten, die in Museen und an anderen außerschulischen Lernorten stattfinden, ein Stück weit ins Regelschulsystem hineinbringen“. Aber gibt es dort nicht ohnehin den Werkunterricht?

„Große Schnittmenge mit Werkunterricht“

Im Gegensatz zum klassischen Werkunterricht stehe beim Tinkering der Prozess im Vordergrund, so Funk. Es gehe nicht um das perfekte Werkstück, sondern darum, eigene Ideen umzusetzen und Materialien spielerisch zu erkunden – auch recycelte Gegenstände aus dem Alltag, die in einem neuen Kontext eingesetzt werden. Wie etwa die Chipsdose in der Kettenreaktionsmaschine. Oder eine leere Klopapierrolle als eines von vielen Elementen einer Kugelbahn.

Modell, um mittels „Tinkering“ Kindern Wissenschaft näherzubringen
Verein ScienceCenter-Netzwerk
Bei dieser Kettenreaktion werden Stromkreise geschlossen und dadurch Reaktionen ausgelöst

Zwischen Tinkering und Technischem Werken gebe es aber auch eine große Schnittmenge, so Funk. „Engagierte Werklehrkräfte, die die Schülerinnen und Schüler nicht nach Bauanleitung, sondern viel frei arbeiten lassen, werden im Tinkering sehr viel von dem wiedererkennen, was sie ohnehin machen.“ Und Österreich habe im Vergleich mit anderen Ländern eine lange Tradition des Werkunterrichts – „Tinkering ist für viele Lehrkräfte viel selbstverständlicher als in anderen Ländern“.

„Eine coole Geschichte“

Eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler regelmäßig „tinkern“, ist die Lernwerkstatt Donaustadt – zumindest bis die Coronavirus-Pandemie im Frühjahr den Alltag an den Schulen durcheinanderbrachte.

„Einstieg ins Tinkering für die ersten Klassen ist immer die Kugelbahn“, so Lehrerin Renate Ernst. Für Zehnjährige sei das „eine coole Geschichte, die immer super ankommt. Die Kinder können bei der Kugelbahn in die Höhe und in die Breite bauen, über zwei Räume hinweg oder in unserer großen Aula.“ Auch in diesem Semester seien in der Wiener Mittelschule Tinkering-Aktivitäten für alle Klassen geplant, so Ernst, „aber wir können nur von Woche zu Woche schauen und das Beste hoffen“.

„Schauen, was da passiert“

Neben eigenen Tagen pro Semester, die für Tinkering reserviert sind, sei es auch Ziel, das technische Tüfteln während der Unterrichtszeit etwa in den Physik- und Chemieunterricht zu integrieren, so Ernst. Denn: „Mit Tinkering kann man alle naturwissenschaftlichen Themen abdecken.“

Modell, um mittels „Tinkering“ Kindern Wissenschaft näherzubringen
ORF.at/Romana Beer
Durch Kurbeln werden die Figuren bewegt – der „Motor“ besteht aus einer alten Schwimmnudel

So könne man beim Thema Frühling etwa die Schneeschmelze anschauen: Wasser frieren und auftauen lassen und „schauen, was da passiert“. Das Wichtigste beim „Tinkern“: „Die Kinder schauen nicht zu, wie der Lehrer etwas herzeigt, sondern sie machen selbst etwas. Das ist ein ganz anderer Antrieb.“

MINT

Das Kürzel MINT steht für die Fachbereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

Auch Lehrende können etwas lernen

„Tinkering ist ein sehr umfangreicher Zugang zu dem, was Bildung und Lernen ausmacht“, so Funk. Denn obwohl durch Tinkering in erster Linie die MINT-Fächer gefördert werden sollen, habe es auch viel mit Kunst und Storytelling zu tun. Bei der beliebten Tinkering-Aktivität „Light Play“ etwa werden Figuren auf Drehtellern positioniert und Geschichten erzählt. „Die einen tigern sich total in die technischen Komponenten hinein. Und für die anderen ist es wichtig, dass eine bedeutungsvolle Geschichte erzählt wird“.

Das Ziel von Tinkering sei „Freude, Neugier und Forschergeist von Anfang an zu fördern und dabei – wie nebenbei – naturwissenschaftliche und technische Konzepte zu lernen“.

Und auch Lehrende lernen beim Tinkering: „Und sei es nur, dass es manchmal gescheiter ist, sich zurückzuhalten, auch wenn man selbst die Lösung weiß.“ Stattdessen sollten Lehrende gezielt Fragen stellen und darauf vertrauen, dass die Schülerinnen und Schüler selbst auf die Lösung kommen – denn so finde Lernen statt.