Willi Resetarits alias Dr. Kurt Ostbahn
APA/Herbert Pfarrhofer
Coronavirus

Die Kultur wandert ins Netz aus

Es gibt Kultur und es gibt Kultur in Coronavirus-Zeiten. Das eine lag schon immer nah – wie die eigene Bibliothek oder Streamingdienste, man hatte nur nie Zeit. Anderes rückt erst jetzt in die Nähe: Konzerte, Filmfestivals, Lesungen und Ausstellungen, die online stattfinden – manches aus einer „Trotz Corona“-Haltung heraus geschaffen, manches wurde bisher ignoriert und feiert nun seine große Stunde.

Plötzlich werden klassische Sitzplatzkonzerte zu potenziellen Tanzgigs – weil man sich zu Hause vor dem Rechner gebärden kann, wie man will, was im Radiokulturhaus in Wien vielleicht nicht so gut ankäme. Dort fanden in den letzten Wochen, Monaten und Jahren legendäre Konzerte statt, und deren Stream wird nun – jeden Abend einer – zur Verfügung gestellt. Attwenger gemeinsam mit koenig, 5/8erln in Ehren und der Russian Gentlemen Club sind etwa beginnend mit Mittwoch zu hören.

Die Balkonkonzerte, viel mehr Segen als Fluch

Willi Resetarits aka Ostbahn Kurti spendet aus seinem selbst gewählten Exil gemeinsam mit Stubnblues einen musikalischen Gruß: „Passts auf, bleibt daheim & gesund!“ Zu finden war der Resetarits-Song unter anderem in der Facebook-Gruppe „Täglicher 18.00 Flashmob-Gig in Österreich“. Seit Sonntag treffen sich ja musikbegeisterte an den Fenstern, um wie in Italien miteinander zu musizieren bzw. einfach etwas vorzutragen.

Dass Wien nicht Siena ist, sieht man in einem unbezahlbaren Video, wo eine typische Wienerin vom alten Schlag einen Flashmob-Sänger anschnauzt: „Ruhe! So schen is des a net!“ Aber andernorts funktionieren die Flashmobs ganz toll. Man hört von einer formidabel vorgetragenen „Ode an die Freude“ und Gitarrensongs. Manchmal darf man halt nicht allzu kritisch sein. Auch wer mehr schlecht als recht „Stairway to heaven“ zupft, meint es gut und sollte nicht mit Eiern beworfen werden, die man dann noch dazu im Supermarkt nachhamstern müsste. Eine tolle Sammlung guter Balkonkonzerte hat FM4 verlinkt.

Musiker singen bei Balkon-Flashmob gegen Einsamkeit

Die Maßnahmen gegen das Virus führen dazu, dass wir alle viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen. In Italien wurde deshalb viel gesungen, und zwar auf dem Balkon und aus dem Fenster. Österreichische Musiker haben sich das zum Vorbild genommen und Sonntagabend um 18.00 Uhr ihre Fenster und Türen geöffnet und ihre Nachbarn mit Livemusik unterhalten.

Ein Star beim ungeschminkten Wohnzimmer-Gig

Klar ist: Es kann nicht jeder Gianna Nannini sein, die sich schnell einmal ungeschminkt im Wohnzimmer hinstellt und ein volles Set spielt für alle, die in nächster Zeit gerne zu ihren Konzerten gegangen wären. Das Schlimmste, meint Nannini, sei die Einsamkeit, wenn man zu Hause bleiben muss. Also lieber online Party machen, ohne lange zu überlegen. Leider war das Konzert nur live zu sehen. Aber man sollte ihr auf Instagram folgen – die Chancen stehen nicht schlecht für eine Wiederholung.

Oper spielt groß auf

Auch so etwas, wofür man sich viel zu wenig Zeit nimmt: Opern. Doch nun gibt es keine Ausrede mehr. Die Wiener Staatsoper startete am Sonntag damit, das Archiv zu öffnen und Aufzeichnungen früherer Opern- und Ballettaufführungen per Livestream weltweit kostenlos zugänglich zu machen. Den Auftakt machte „Staatsoper Live“ mit der Produktion „Das Rheingold“ in der Regie von Sven-Eric Bechtolf aus dem Jahr 2016. Mit wenigen Ausnahmen versucht man, mit dem angebotenen Gratisabonnement dem ursprünglich geplanten Spielplan zu folgen – die Aufführungen beginnen je nach Dauer entweder um 19.00 Uhr oder – bei längeren Produktionen – bereits um 17.00 Uhr.

Ebenfalls freigiebig ist die Philharmonie Berlin – auch sie streamt gratis. Und bereits jetzt als Kult gilt das geisterhafte Konzert von James Blunt in der leeren Elbphilharmonie. Auf deren Seite kann man sich auch das Konzert des Jazz at Lincoln Center Orchestra anschauen. Und retour nach Österreich für eine ganz konkrete Ankündigung: Das Theater an der Wien streamt die Premiere von „Fidelio“ über die Plattform „fidelio“, und zwar am Freitag ab 19.00 Uhr. Neben Hollywood-Star Christoph Waltz, der mit seiner zweiten Operninszenierung überhaupt für Aufsehen sorgt, ist Manfred Honeck am Dirigentenpult für die musikalische Leitung verantwortlich.

Lesungen virtell besuchen – oder selbst schreiben

Beim ORF kann man in der TVThek bzw. via Flimmit aus dem Vollen schöpfen. Am Vormittag gibt es nun sogar Schulfernsehen. Aber auch Erwachsene können sich fortbilden: Unter dem Hashtag „#lockdownlecture“ bietet Simon Sahner, Literaturwissenschaftler an der Uni Freiburg, via Twitter in den kommenden Wochen ein Seminar über autobiografisches und autofiktionales Schreiben in der Gegenwart an – besonders spannend für jene, die in Zeiten der Ausgangssperre daran denken, den lang vernachlässigten eigenen Romanentwurf aus der Schublade zu holen, und in jedem Fall schön für Menschen, die gerne Literatur diskutieren.

Kinos weiter unterstützen

Die Leipziger Buchmesse ist abgesagt – ein brutaler Einschnitt besonders für Kleinverlage, die ohnehin um Aufmerksamkeit kämpfen. Mit den Hashtags „#buecherhamstern“, „#lbm20“ und „#virtuellebuchmesse“ versuchen Verlegerinnen, Buchhändlerinnen und engagierte Leserinnen, auf Twitter und Instagram dennoch die Neuerscheinungen ans Publikum zu bringen.

Arthouse-Filme finden sich auf mehreren Streamingplattformen. Wer gern dabei sein von der Krise hart geprüftes Lieblingskino unterstützen möchte, kann das per VOD Club tun: Ein Drittel des Streamingpreises, so verspricht die Plattform, geht an das Kino, über dessen Portal man sich eingeloggt hat – etwa das Admiralkino, das erst kürzlich seine Schließung knapp abwenden konnte.

Das MoMA online

Auch bei geschlossenen Toren bietet das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) seinem Publikum gut gemachte Videoclips zu seinem aktuellen Programm. So ist etwa zur Retrospektive des Künstlers Donald Judd ein Ausschnitt aus einem historischen Interview zu sehen, wo der Meister der rechteckigen Skulpturen den Begriff „Minimalismus“ für sich ablehnt.

Auf der Website werden zu 21 von Judds reduzierten Werken Audiobeiträge angeboten, bei denen auch Weggefährten, Galeristen und Spezialisten zu Wort kommen. Wer sich die MoMA-App aufs Handy lädt, kann sogar auf Deutsch Beiträge über Highlights der Sammlung hören, die seit dem Vorjahr ein Augenmerk auf Künstlerinnen und afroamerikanische Kunst legt.

Guggenheim und Metropolian Museum

Wenn man schon nicht verreisen kann: Im Guggenheim Museum wäre derzeit eine der legendären Ausstellungen des Architekten Rem Koolhaas zu sehen. In „Countryside, The Future“ hinterfragen Koolhaas und sein großes Forschungsteam die Zukunft des Lebens außerhalb der Städte. Dabei handelt es sich – erstmals in dem runden Haus – um keine Kunstschau, sondern um Fragen von Klimawandel, Migration, Erhaltung, Energie oder künstlicher Intelligenz in Bezug auf die zukünftige Gestaltung des „Landlebens“.

Zu diesen Fragen können 18 Hörbeiträge aus der Guggenheim-Soundcloud auf Englisch angehört werden. Es besteht aber auch die Möglichkeit, Audiotracks zur Geschichte des Hauses und seiner reichen Kunstsammlung anzuhören.

Wer nach einem virtuellen Museumsrundgang sucht, dem sei das Metropolitan Museum und sein Projekt „The Met 360°“ empfohlen, bei dem man sich selbst durch die Hallen dieses Museumstankers navigieren kann. Auch die Serie „The Artist Project“, bei der zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler über sich selbst und ihre Lieblingswerke im Met reden, gibt viel her.

Sich Zeit nehmen für Avantgarde

Auf Ubu.com werden gemeinfreie oder von den Urhebern freigegebene Avantgardetexte, Videokunst und Audioaufnahmen bereitgestellt. Wer sich beispielsweise Damien Hirsts Videoumsetzung von Samuel Becketts Breath oder ein einstündiges Videoporträt der Freejazz-Legende Sun Ra von 1980 ansehen möchte, ist hier bestens aufgehoben. Nebenbei ist die Seite eine Erinnerung an eine Zeit, in der das Internet als Glücksversprechen der freien Bildung und des freien Informationsflusses für alle galt. Grafisch unterkomplex, aber sexy.

Europeana.eu ist ein Verbund europäischer Kulturinstitutionen. 58.239.149 Kunstwerke, Artefakte, Bücher, Videos und Audios aus ganz Europa sind dort abrufbar. Kuratierte Themenbereiche finden sich dort ebenso wie die Möglichkeit in der Suchmaschine hochauflösende Reproduktionen von Kunstwerken, Tonaufnahmen, Digitalsats alter Zeitungen etc. zu suchen.

Virtuell die Uffizien besuchen

In Italien vertreiben sie sich die Zeit übrigens längst nicht nur mit Balkonkonzerten, aber dafür muss man weiter ausholen. Zwischen 1349 und 1351 verfasste der italienische Poet Giovanni Boccaccio eine Sammlung von Geschichten, die unter dem Titel „Decameron“ weltberühmt wurde. Diese Geschichten erzählen sich in dem Werk Boccaccios junge Leute in einer Villa auf dem Land, in die sie vor der Pest in Florenz geflohen waren.

In Italien herrscht zwar keine Pest, doch das Coronavirus hat das öffentliche Leben lahmgelegt – noch weit mehr als in Österreich. Auch alle Museen sind geschlossen. Eike Schmidt, Direktor der Uffizien in Florenz, griff die Idee des Geschichtenerzählens in Pest- bzw. Virenzeiten auf und entwickelte das Projekt „Uffizi Decameron“ – mehr dazu in oe1.ORF.at.