Bücher und ein E-Book-Reader auf einem Tisch im Garten
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Coronavirus

Runterschalten mit Literatur

Lesen ist Reflexion, und Lesen kann Realitätsflucht sein. Nach beidem gibt es Bedarf in Zeiten des Coronavirus. Es zahlt sich aus, die eigene Bibliothek zu durchforsten: Zum Beispiel könnte man gerade jetzt versuchen, von Tom Hodgkinson Müßiggang zu lernen, und endlich einmal (wieder?) „Krieg und Frieden“ von Lew Nikolajewitsch Tolstoi lesen.

Die eigene Bibliothek ist ein Lebensprojekt. Glücklich, wer schon in der Vergangenheit für Ordnung gesorgt hat und jetzt auf ein nach Genres, Ländern und Autorinnen und Autoren geordnetes System zurückgreifen kann. Wenn nicht, wäre es jetzt an der Zeit, den Bestand zu durchforsten und zu ordnen. Dabei lässt sich einiges entdecken, mit dem sich die Zeit der Krise leichter durchstehen lässt.

Da sind unzählige Kochbücher, die man geschenkt bekommen hat. Wenn die Kantinen und Restaurants zuhaben, ist es Zeit, selbst zu kochen – möglichst lustvoll, schließlich sind die Supermarktregale allen Ängsten zum Trotz gut gefüllt. Dann Ratgeber a la Marie Kondo, die vorschlagen, durch äußere Ordnung zur inneren Ruhe zu gelangen – Zeit zum Ausmisten und Putzen?

Hinweis

In den nächsten Wochen werden Redakteurinnen und Redakteure von ORF.at über ihre eigenen Bibliotheksfunde schreiben, die sich – ganz subjektiv empfunden – gerade jetzt zur Lektüre empfehlen.

Die hohe Kunst des Loslassens

Genauso stößt man aber auch auf Liebkinder der Vergangenheit, die plötzlich eine ganz neue Bedeutung erlangen. So ein Buch ist Hodgkinsons „Anleitung zum Müßiggang“ aus dem Jahr 2005. Hodgkinson ist Jahrgang 1968, ein in Großbritannien bekannter Kolumnist und mittlerweile Vorstand der „Idler Academy“, was auf Österreichisch so viel wie „Owezahra-Akademie“, also „Akademie des Müßiggangs“, bedeutet.

Rund um seine Forderung, dass es sich besser lebt, wenn man ein paar Gänge runterschaltet, hat er ein ganzes Lebenswerk geschaffen. Neben der Akademie gibt es eine Zeitschrift („The Idler“), einen ganzen Haufen Bücher von Hodgkinson und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, und es macht Spaß, ihm bzw. seiner Akademie in den Sozialen Netzwerken zu folgen. Sein grundlegendes Standardwerk war die „Anleitung zum Müßiggang“.

Buchhinweis

Tom Hodgkinson: Anleitung zum Müßiggang. Rogner & Bernhard, 382 Seiten, als E-Book um 7,99 Euro, als Taschenbuch von Suhrkamp um 10,30 Euro.

Im Modus der ruhigen Kugel

Nun fällt für viele Menschen wegen der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus die Tagesstruktur weg – und damit die Zwänge und Segnungen des Hamsterrades aus Arbeit und Konsum. Wer jetzt schon weiß, dass er oder sie eine neue Struktur braucht und neue Aufgaben, um nicht lethargisch zu werden, sollte sich emsig Aktivitäten im und ums Haus suchen – für ihn oder sie gehen Hodgkinsons Überlegungen ins Leere.

Wer hingegen schon länger damit liebäugelt, Stress durch Ruhe zu ersetzen und Geltungsdrang durch Ausgeglichenheit, oder es zumindest einmal versuchen will, hat in Hodgkinson einen gescheiten, gebildeten, witzigen und mitunter ganz schön bösartig gerissenen Gefährten gefunden, der Anleitung und Argumentationshilfe liefert für ein Leben im Modus der ruhigen Kugel.

„Nur nicht faul zur Faulheit sein“

„Laßt uns faul in allen Sachen,
Nur nicht faul zu Lieb’ und Wein,
Nur nicht faul zur Faulheit sein.“

Dieses Zitat von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) stellt Hodgkinson seinem Buch voran – und es sollen viele ähnliche Weisheiten folgen, von den alten Griechen bis Henry David Thoreau. Akademisch trocken ist das Ganze dennoch nicht, im Gegenteil. Hodgkinson bettet seine Überlegungen in eine fiktive, schreckensvoll beschriebene Tagesstruktur ein.

Um 8.00 Uhr etwa hat früher sein Wecker geläutet und ihn gequält. Heute stellt er den Wecker mitunter noch immer, weil es ein so schönes Gefühl ist aufzuwachen, sich zu recken, zu gähnen und danach nicht auf Schlummern, sondern auf Abbrechen zu drücken und ganz einfach so lange weiterzuschlafen, wie man will. Fürs Nichtstun ist er allerdings nicht, wohl aber für eine Mischung aus Das-Nötigste-Verdienen, Selbstversorgung von Balkon oder Garten und Rauschende-Feste-Feiern, wie sie fallen.

Die Anhäufung von Mußestunden

Intellektuelle wie Slavoj Zizek sagen schon jetzt, dass die Welt nach der Coronavirus-Krise nicht mehr dieselbe sein wird wie davor. Vielleicht kommen ja wirklich manche auf den Geschmack, dass es ganz fein ist, weniger zu arbeiten und dafür auf Konsum zu verzichten. Klar: Für jene, die trotz Schuftens am Existenzminimum dahingrundeln, muss das zynisch klingen. Sie haben die Option nicht. Andere werden auf die Anhäufung von Mußestunden – Gesundheit und Versorgungssicherheit vorausgesetzt –, der sie jetzt unfreiwillig frönen, nicht mehr verzichten wollen.

Buchhinweis

Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Krieg und Frieden. Als E-Book von diversen Anbietern zwischen null und einem Euro, als Taschenbuch von diversen Verlagen ab ca. 8,00 Euro.

Zeit für Schwarten

Wenn man einmal auf den Ruhemodus umgestellt hat, ist man bereit für das Lesen von dicken Schwarten. Und eine jener Schwarten, die viele in ihren Bibliotheken zu Unrecht ungelesen verstauben lassen, ist Tolstois „Krieg und Frieden“. Die Menschheitsgeschichte ist eine Anhäufung von Ausnahmesituationen (das kann man sich momentan in Erinnerung rufen), und so war auch Tolstois Leben im vorrevolutionären Russland des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von beständigen Umbrüchen geprägt.

Nach den Napoleonischen Kriegen und vor dem Sturz der Zarenfamilie herrschte in Russland nicht nur ökonomische Not – es brach auch das aristokratisch organisierte Gesellschaftssystem, das nicht zuletzt auf Leibeigenschaft beruhte, nach und nach in sich zusammen. Tolstoi war ein Vordenker, er betrieb den Umbruch aktiv, was für einen Mann von seinem Adelsstand alles andere als selbstverständlich war.

Tipp

Zur Erinnerung: Statt in eine Buchhandlung zu gehen, kann man sich kostenlos viele rechtefreie E-Books (etwa „Krieg und Frieden“) herunterladen. Man braucht auch keinen E-Book-Reader, es gibt entsprechende Lese-Apps für Smartphone, Tablet, Laptop und PC.

In Sack und Asche auf der Luxusveranda

Das führte zur skurrilen Situation, dass Tolstoi das Familienanwesen seiner Frau vermachte, dort dann aber in Sack und Asche auf der Veranda saß und sich von den Dienern, die nunmehr die Diener seiner Frau waren, bedienen ließ. Denn sie bestand auf ihrem Lebensstandard (großartig ist auch der zänkische Briefwechsel des Ehepaars). All diese inneren und äußeren Spannungen, Napoleons Feldzug und Niederschlagung und die gesellschaftlichen Umwälzungen reflektierte Tolstoi erzählerisch in seinem gewaltigen Roman „Krieg und Frieden“.

Das ist richtig, richtig spannend, wenn man sich einmal auf das etwas langsamere Erzähltempo vergangener Tage eingelassen hat und sich neben das Buch immer eine Who’s-who-Liste (russische Namen!) legt. Romantik, Politik, Kriegswirren, philosophische Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft – inklusive grundsätzlicher Überlegungen, die durchaus aktuell sind: Hier findet sich viel, das sich lohnt gelesen zu werden.

Den Herrgott einen guten Mann sein lassen

Oder gehört: Hörbücher bieten sich momentan besonders an, weil man sie auch zu zweit genießen kann – im Kerzenschein genauso wie neben der schnöden Hausarbeit. Von „Krieg und Frieden“ gibt es da draußen im Netz, weil rechtefrei, wirklich gute Hörversionen. Die Botschaft aus dem Jahr 1868 kommt an, egal ob gehört oder gelesen: Komme, was wolle, man darf das Anständige am Menschsein nicht aufgeben, auch wenn es anstrengend ist. Und anstrengend ist es allemal.

Vermischt mit Hodgkinson würde das bedeuten: Einstehen, wofür man steht, einstehen auch für sich und seine Lieben, Verantwortung übernehmen für die Gesellschaft – und dann gemütlich ein Glas Wein trinken und den Herrgott einen guten Mann sein lassen, ob während der Napoleonischen Kriege oder in Zeiten des Coronavirus.