Gemälde von Heinrich VIII.
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Mantels „Spiegel und Licht“

Von Schafott zu Schafott

Acht Jahre haben die Fans von Hilary Mantel auf den letzten Band ihrer Trilogie über Thomas Cromwell, Emporkömmling und Faktotum des Tudor-Königs Heinrich VIII., warten müssen. „Spiegel und Licht“ erfüllt die Erwartungen und bestätigt das Können der britischen Autorin.

„Divorced, beheaded, died, divorced, beheaded, survived“, zu Deutsch „geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, überlebt“ – mit diesem Merkspruch wird britischen Kindern beigebracht, sich an die Schicksale der Ehefrauen des Tudor-Königs Heinrich VIII. zu erinnern. Ganze sechs heiratete er und scheute dabei auch den Bruch mit dem Vatikan nicht.

Als Heinrich nach 22 Jahren Ehe mit Katharina von Aragon längst ein Auge auf Anne Boleyn geworfen hatte und seine Ehe von Papst Clemens VII. annullieren lassen wollte, verweigerte dieser das königliche Anliegen bei Androhung der Exkommunikation.

Doch Heinrich zeigte sich in religiösen Belangen äußerst flexibel. Als er 1533 seine heimliche Heirat mit der Geliebten legalisieren ließ und im Jahr darauf tatsächlich exkommuniziert wurde, löste er die englische Kirche kurzerhand von Rom los und machte sich auch gleich zu deren Oberhaupt.

Gemälde von Heinrich VIII.
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Heirich VIII. ist der Nachwelt noch immer durch seine vielen Ehen in Erinnerung.

Stoff für Weltliteratur

Die Intrigen und Machtkämpfe an Heinrichs Hof, die nicht selten in der Hinrichtung von in Ungnade gefallenen Beratern, Klerikern oder Ehefrauen gipfelten, dienten schon dem eine Generation später geborenen William Shakespeare als Inspiration für seine Königsdramen und damit als Stoff für Weltliteratur.

Dass dem im 21. Jahrhundert noch immer so ist, beweist die britische Autorin Mantel seit 2009 mit ihrer Tudor-Trilogie, die nun nach „Wölfe“ und „Falken“ mit dem Band „Spiegel und Licht“ abgeschlossen ist.

Mit den ersten beiden Romanen hat sie mit fünf Millionen verkauften Exemplaren nicht nur einen ungewöhnlichen Erfolg beim Publikum eingefahren, sondern gleich zweimal den Booker-Preis, die gewichtigste Auszeichnung für englischsprachige Literatur, zugesprochen bekommen. Unter dem Titel „Wolf Hall“ wurden die ersten beiden Bände außerdem von der BBC als Serie adaptiert.

Das Genre erneuern

En Passant hat sie auch noch das Genre des historischen Romans erneuert. Denn ihrer auf 2.000 Seiten angelegten Erzählung des Lebens von Thomas Cromwell gelingt, was bei den Bestsellern eines Ken Follett oder Noah Gordon danebengeht. Mantel ist historisch bestens informiert, füllt die Lücken zwischen den Quellen mit subtilen Wahrnehmungen aus und schafft es, die Perspektive auf die Vergangenheit zu verschieben.

So galt Cromwell der akademischen Geschichtswissenschaft meist als reformatorischer Eiferer und Karrierist – ein Bild, das Mantel überzeugend ergänzt. Ihr Thomas Cromwell wird zum brillanten Taktiker und vielschichtigen, komplexen Charakter, der von seiner Kindheit als Sohn eines Schmieds auf den ersten Seiten von „Wölfe“ bis zu seiner Hinrichtung auf den letzten Seiten von „Spiegel und Licht“ durch das faszinierende 16. Jahrhundert führt.

Souveräne Erzählerin

Am Ende von „Falken“ ist Heinrich bei Jane Seymour, der Ehefrau Nummer drei, angekommen. Boleyn – die bis dahin aktuelle Königin, mit der Cromwell eine präzise austarierte Feindschaft pflegt – wird wegen Hochverrats und Ehebruchs verurteilt und hingerichtet. Am Beginn von „Spiegel und Licht“ erzählt Mantel diese Hinrichtung erneut: „Sobald der Kopf der Königin abgetrennt ist, geht er davon. Ein stechendes Hungergefühl erinnert ihn daran, dass es Zeit für ein zweites Frühstück ist oder vielleicht für ein frühes Mittagessen.“

Autorin Hillary Mantel
Reuters/Henry Nicholls
Mantel schrieb acht Jahre am letzten Band ihrer Trilogie über Cromwell

Mantel ist eine äußerst souveräne Erzählerin, die auch in „Spiegel und Licht“ ihre erprobten Techniken beibehält. Erzählt in der Gegenwart und in der dritten Person, kommt sie Cromwell in seiner Gedanken- und Gefühlswelt unwahrscheinlich nahe. Sie verwendet ihn als Sonde, als eine Art Bullauge, um aus seiner Perspektive auf die turbulenten Jahre von 1536 bis 1540 am Hof des unberechenbaren Heinrichs zu blicken.

Cromwell wird in diesen Jahren mit mehr und mehr Ämtern betraut, ein ungeheurer Aufstieg für einen Mann aus dem Volk. Gleichzeitig weiß er nur zu genau um seine Position: „Seine Hauptaufgabe (so scheint es im Moment) besteht darin, dem König neue Ehefrauen zuzuführen und ihn von den alten zu befreien. Seine Tage sind lang und beschwerlich, voller Gesetze, die es zu entwerfen, und Botschafter, die es zu betören gilt.“

Feines Gewebe

Denn wer dem Spiegel und Licht, wie die Höflinge den König schmeichelnd nennen, allzu nahe kommt, bezahlt vorhersehbar mit seinem Leben. So auch Cromwell, der 1540 noch zum Lord of Essex ernannt wird und die vierte Ehe Heinrichs mit Anna von Kleve organisiert, bevor er in Ungnade fällt und am Tag der fünften Eheschließung Heinrichs selbst hingerichtet wird.

Buchhinweis

Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Dumont, 1.097 Seiten, 32,90 Euro.

Mantel erweist sich auch hier als Meisterin in der Konstruktion ihrer Trilogie. Während Cromwell der Kopf abgeschlagen wird, erinnert er sich an die Tritte, die er von seinem Vater Walter als 15-Jähriger bekommen hat, eine Szene, mit der Mantel den ersten Band „Wölfe“ beginnen ließ.

Nicht nur die Wiederholungen setzt Mantel großartig ein, auch die Verwendung von Farben und Stoffen gehört zu ihren Spezialitäten. Cromwell, der sich einmal als Tuchhändler verdingt hat, erweist sich in allen drei Bänden als genauer Beobachter von Farbschattierungen, ein Umstand, der es Mantel wiederum erlaubt, die Tudorzeit für Leserinnen und Leser bildlich werden zu lassen. Natürlich spielt Mantel hier mit genuin Literarischem. „Textum“ bedeutet ja ursprünglich nichts anderes als Gewebe, und so verweisen die vielen kleinen Wahrnehmungen der Stoffe und Gewebe immer wieder auf das große Ganze.

Gemälde von Thomas Cromwell, Lordkanzler von Heinrich VIII.
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Thomas Cromwell, gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren

Historische Ironie

Auch Ironie durchzieht Mantels Romane gleich auf mehreren Ebenen. So kommt der Hofmaler Hans Holbein, von dem nahezu alle Porträts der Herrschaften aus Heinrichs Zeit stammen, regelmäßig vor: „Auf seine Aufforderung hin kommt Master Holbein. Er zieht eine Spur seiner Beschäftigung mit sich, den Geruch von Leinsamen und Lavendelöl, Kiefernharz und Hasenleim. ‚Jetzt sind Sie ein Milord, soll ich Sie noch einmal malen?‘ ‚Ich bin mit dem alten Bild zufrieden.‘“ Mantel kommentiert auch hier ihr literarisches Verfahren. Sie ist eben nie mit dem alten Bild Cromwells zufrieden, porträtiert ihn im Werden und führt hinter das Entstehen der historisch tradierten Bilder hinein in eine erfundene historische Wirklichkeit.

Zudem sind ihre Konstruktionen ein augenzwinkernder Kommentar für historisch Interessierte. Im Jahr 1649 beispielsweise wird sich die Konstellation zwischen den Cromwells und den englischen Königen verkehrt haben, wenn Thomas’ Urgroßneffe Oliver Cromwell die Hinrichtung von Charles I. betreibt und selbst für kurze Zeit zum Staatsoberhaupt wird.

Und noch einen Grund hat die Begeisterung für Mantels historische Romane. Die menschlichen Regungen, Wahrnehmungen, Gefühle und Auseinandersetzungen, die sie ihrem Cromwell ausgestaltet, sind nach wie vor aktuell und lassen uns das 16. Jahrhundert beinahe als Gegenwart erleben.