Der britische Premierminister Boris Johnson
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Kehrtwende vollzogen

GB setzt nun auch auf Ausgangssperre

Lange Zeit hat sich Großbritannien gegen scharfe Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus gesperrt. Nun vollzog Premierminister Boris Johnson aber endgültig die Kehrtwende: Für die Menschen in Großbritannien gelten ab sofort ähnlich strenge Regeln, wie sie bereits die meisten anderen europäischen Länder verordnet haben. Dass freilich auch die Maßnahmen noch einmal verschärft werden können, zeigte am Montag Frankreich.

Mit sofortiger Wirkung dürfen die Menschen in Großbritannien ihre Wohnungen und Häuser nur noch in Ausnahmefällen verlassen. Dazu zählen der Einkauf von Produkten des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Medikamente, medizinische Termine, eine Sportaktivität täglich und der Weg zum Arbeitsplatz, so er „absolut notwendig“ ist. Die Maßnahmen verkündete Johnson Montagabend in einer im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation. Sie sollen drei Wochen lang gültig sein.

Alle sozialen Veranstaltungen wie Hochzeitsfeiern sind verboten. Geschäfte abseits des täglichen Bedarfs müssen geschlossen bleiben, das Gleiche gilt für Büchereien, Spielplätze, Kirchen und Moscheen. Der Premierminister warnte die Menschen in Großbritannien, sich mit Freunden oder Familienangehörigen zu treffen. Gruppen von mehr als zwei Personen, die nicht zum selben Haushalt gehören, sind verboten. Sollte die Polizei auf Menschenansammlungen stoßen, werde sie diese zerstreuen. Wer sich nicht an die Vorgaben halte, dem drohten Strafen, so Johnson. Seine Rede glich damit weitgehend den Ansagen vieler anderer europäischer Staats- und Regierungschefs – wenngleich mit einigen Tagen Verspätung.

Johnson verhängt Ausgangssperre

Wegen der Coronavirus-Krise verhängt Großbritannien eine mindestens dreiwöchige Ausgangssperre. Das erklärte Premierminister Boris Johnson am Montagabend in einer im Fernsehen übertragenen Rede an die Nation.

Kehrtwende Schritt für Schritt

Zwar war die britische Regierung bereits vergangene Woche von ihrem Kurs einer „Herdenimmunität“ abgeschwenkt. Während die meisten europäischen Regierungen aber bereits strenge Ausgangsbeschränkungen erließen, setzte man in Großbritannien weiter auf Freiwilligkeit. Erst vor dem Wochenende und nach langem Zögern wurden in einem ersten Schritt Ende vergangener Woche Schulen, Pubs und Restaurants geschlossen.

Überfüllte Londoner U-Bahn
Reuters/Peter Fellows
Noch am Montag waren die U-Bahnen in London teilweise gesteckt voll

Zugleich hatte der Premierminister die Menschen in seinem Land aufgefordert, soziale Kontakte zu vermeiden und Abstand zueinander zu halten – mit mäßigem Erfolg. Am Wochenende hatten unzählige Menschen das schöne Wetter für Ausflüge in städtische Parks und Erholungsgebiete genutzt – zu viele, um den notwendigen Abstand einhalten zu können. Und die britische BBC zeigte noch am Montag Bilder von überfüllten U-Bahnen in London.

Warnung vor Zehntausenden Toten

Den nunmehrigen Maßnahmen waren eindringliche Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorausgegangen. Die Situation könne schlimmer als in Italien werden, zitierte am Wochenende der Fernsehsender Sky New einen Mediziner aus einem Londoner Krankenhaus, der anonym bleiben wollte. Ein Team aus Ärzten, Statistikern und Epidemiologen kam in einer Studie zu der Ansicht, dass Großbritannien ohne Verschärfung der Maßnahmen 35.000 bis 70.000 vermeidbare Todesfälle in Kauf nehme.

Die Regierung sollte „mehr tun, um die Epidemie zu unterdrücken, sei es durch erzwungene Sperrungen oder erzwungene soziale Distanzierung anstatt durch freiwillige Maßnahmen“, so die Expertinnen und Experten von der Universität Cambridge, dem University College London (UCL) und dem Institut Health Data Research UK. Die Untersuchung, aus der die „Financial Times“ und der „Independent“ am Montag zitierten, ist noch nicht von einer Fachzeitschrift publiziert worden. Sie basiert auf Gesundheitsdaten von 3,8 Millionen Briten.

Gesundheitssystem droht Zusammenbruch

Die Studie zeige, dass die Regierung schärfere Maßnahmen einführen sollte, „um nicht nur unmittelbare Todesfälle, sondern auch langfristig übermäßige Todesfälle zu vermeiden“, sagte Studienleiter Amitava Banerjee vom UCL. Gerade für Ältere mit Vorerkrankungen tue die Regierung nicht genug, zitierte der „Independent“ den Forscher. Laut dem Studienleiter sind nicht nur Infizierte in Gefahr, sondern auch sehr viele Ältere etwa mit Herz-Kreislauferkrankungen, die wegen der Coronavirus-Krise nicht mehr angemessen behandelt werden könnten.

Autofreie Londoner Westminster Bridge mit Blick auf das Parlamentsgebäude
APA/AFP/Ben Stansall
Bei den Touristen sind die Warnungen bereits angekommen

Der Mediziner stimmte damit in den Chor derer ein, die bereits seit Tagen davor warnen, dass der chronisch unterfinanzierte Nationale Gesundheitsdienst (NHS) unter der Last der Epidemie zusammenbrechen könnte. Kritiker werfen Johnson vor, durch seinen Schlingerkurs im Kampf gegen das Virus wertvolle Zeit verloren zu haben. In der vergangenen Woche sagte der medizinische Berater Patrick Vallance, die Regierung strebe mit neuen Strategien an, die Zahl der Toten unter 20.000 zu halten. „Das wäre ein gutes Ergebnis.“ Am Montag stieg die Zahl der Toten auf 335.

Frankreich schränkt Bewegungsfreiheit weiter ein

Mehr als doppelt so viele Tote musste inzwischen Frankreich verzeichnen. Nach Italien und Spanien ist das Land zurzeit in Europa besonders stark von der Coronavirus-Pandemie betroffen. Innerhalb von 24 Stunden stieg die Zahl der Toten um 186 auf 860 an. Rund 20.000 Menschen gelten offiziell als infiziert. Das Land verschärfte nun seine ohnehin bereits strengen Ausgangsbeschränkungen erneut. So würden etwa Straßenmärkte weitgehend geschlossen sowie Sport und Spaziergänge mit Kindern weiter eingeschränkt, kündigte Frankreichs Premier Edouard Philippe Montagabend im französischen Fernsehen an. Die Ausgangsbeschränkungen könnten außerdem noch einige Wochen anhalten.

Die Regeln gelten in ganz Frankreich seit vergangenem Dienstag und waren ursprünglich für 15 Tage angesetzt. „Ich ziehe meinen Hut vor den Franzosen, die die Anweisungen respektieren. Aber wir haben Menschen beobachtet, die das nicht tun“, sagte Philippe. Künftig würden daher Spaziergänge mit Kindern und Sport vor der Tür auf maximal eine Stunde und einen Radius von einem Kilometer um das Wohnhaus begrenzt – und zwar einmal pro Tag. Es sei empfehlenswert, auf den Passierschein, den die Französinnen und Franzosen ausfüllen müssen, wenn sie das Haus verlassen, die entsprechende Uhrzeit zu vermerken.

Seit knapp einer Woche dürfen die Franzosen nur das Haus verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist – dazu zählt etwa Lebensmittel einkaufen, Arztbesuche oder alleine Sport machen. Die Polizei kontrolliert die Einhaltung der Regeln streng und hatte in den vergangenen Tagen besonders Jogger ins Visier genommen.