Leerer Markusplatz in Venedig
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Coronavirus-Krise

Tourismus steuert ins Ungewisse

Wo unlängst noch Besuchermassen aufeinandergeprallt sind, herrscht Leere, der Flugbetrieb ist großflächig eingestellt worden, Grenzen sind geschlossen. Kreuzfahrtschiffe, die schon länger unterwegs sind, irren auf der Suche nach einem Zielhafen herum, andere legen gar nicht mehr ab. Die Coronavirus-Pandemie hat den Tourismus zum Erliegen gebracht, dürfte ihn aber, wenn die Krise einmal abgeebbt ist, neu schreiben.

Politische Unruhen, Terroranschläge, Naturkatastrophen, auch frühere Coronavirus-Wellen wie SARS und MERS, lösten regionale und globale Einbrüche bei der Reisetätigkeit aus. Meist aber fasste der Tourismus rasch wieder Schritt – der Mensch neigt zum Vergessen. Oder, wie es Eva Brucker, Leiterin des Studiengangs Innovation und Management im Tourismus an der FH Salzburg, im Gespräch mit ORF.at formulierte: „Man passt sich an neue Unsicherheitsfaktoren an und wird resilienter gegenüber bestimmten Entwicklungen.“ Die derzeitige Krise aber sei einmalig, Vergleiche suche man vergebens.

Zwar würden die Erfahrungswerte steigen, doch nie zuvor sei die Gemengelage so komplex gewesen wie derzeit. Entsprechend unmöglich sei es, valide Prognosen abzugeben, so Brucker. Die Szenarien würden von vielversprechend bis niederschmetternd reichen: Einerseits gäbe es die Hoffnung auf eine von Nachhaltigkeitsgedanken und verträglicher Innovation geprägte Neuordnung. Demgegenüber stehe das Szenario eines globalen wirtschaftlichen Zusammenbruchs und des Wiederauflebens abgeschotteter Nationalstaaten. Dazwischen scheint vieles möglich.

Touristen in Venedig
Reuters/Manuel Silvestri
Der Markusplatz in Venedig dieser Tage (ganz oben) und vor zwei Jahren

„Reisen ist ein Menschheitstraum“

Bei der Beurteilung, wann und inwieweit Reisebeschränkungen aufgehoben werden, würden vielen Interessen eine Rolle spielen, letztlich aber könne allein die Politik entscheiden. Die aktuellen Zahlen zu Schließungen, Umsatzausfällen und Kündigungen im Fremdenverkehr zeigen jedenfalls ein düsteres Bild: Kaum eine andere Branche ist stärker betroffen, alternative Einnahmemöglichkeiten sind schlicht nicht vorhanden. Trotz staatlicher Hilfen müssen zahlreiche Unternehmen, in der Hotellerie ebenso wie bei Reiseveranstaltern und Reisebüros, ums Überleben kämpfen.

Brucker weckt etwas Hoffnung: „Der Mensch ist von jeher durch Neugierde und Fernweh geprägt, in sämtlichen Epochen spielte das eine große Rolle. Reisen ist ein Menschheitstraum.“ Reisefreiheit sei lange erkämpft worden – der „Global Code of Ethics“ der World Tourism Organization formulierte das im Jahr 1999 als Grundsatz. Und an der Lust, Neues zu entdecken, werde sich auch in Zukunft nichts ändern, so Brucker.

Langer Weg zurück

Eine Normalisierung der Reisetätigkeit wird sich diesmal aber ziehen: Dass die Sommersaison noch ein Erfolg wird, gilt als nahezu ausgeschlossen. Profitieren könnte allenfalls der „erdgebundene“ Tourismus, also Reisen im näheren Umfeld. Ob dabei auch die bei heimischen Reisenden beliebten Destinationen an der oberen Adria punkten können, ist angesichts der derzeitigen Lage in Italien sehr ungewiss. Brucker: „Das Bewusstsein bezüglich möglicher gesundheitlicher Risiken wird viel stärker ausgeprägt sein.“

Touristen vor dem Taj Mahal
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Touristen drängen sich vor dem Taj Mahal – Aufnahme von vor eineinhalb Jahren

Der im vergangenen Jahrzehnt grassierende Overtourism, also Übertourismus, hat vorerst ausgedient. Plakativ dafür steht das Beispiel Venedig: Ab 1. Juli hätten Tagestouristen einem Beschluss des Gemeinderats zufolge drei Euro, in der Hochsaison bis zu zehn, Eintrittsgeld zahlen sollen. Diese Steuer jetzt einzuführen sei aber „undenkbar“, sagte Bürgermeister Luigi Brugnaro Ende März. „Das Konzept, die Zahl der Besucher einzugrenzen und somit die Qualität des Tourismus zu erhalten, bleibt jedoch aufrecht.“

Hallstatt ohne Besucherherden

Ähnliches hört man aus Hallstatt: Pro Jahr kam zuletzt fast eine Million Besucher in den nicht einmal 800 Bewohner zählenden Ort in Oberösterreich. Um die Massen einzudämmen, wurde eine Lösung mit Slots für ankommende Busse – maximal 54 pro Tag, im Vorhinein online zu buchen – erarbeitet. Ab Mai sollte die Bestimmung gelten und laut Bürgermeister Alexander Scheutz (SPÖ) wird sie trotz der derzeitigen Flaute auch planmäßig eingeführt. „Ich glaube nicht, dass im Mai überhaupt 54 Busse pro Tag kommen, das kann aber nächstes Jahr schon wieder ganz anders ausschauen“, so Scheutz. Er wolle langfristig planen.

Touristen in Hallstatt
Reuters/Lisi Niesner
Hallstatt im vergangenen Sommer

Overtourism neu bewertet

Die Krise biete bis dato überlaufenen Städten und Regionen die Möglichkeit, komplexere Strategien für Besucherlenkung zu entwickeln und nicht nur punktuelle Maßnahmen zu setzen, glaubt auch Brucker. Sie erwarte „einen differenzierteren Blick auf das Thema Overtourism“: Der Bevölkerung in den touristischen Hotspots würden momentan die negativen Auswirkungen durch das Ausbleiben der Besucher vor Augen geführt. So seien etwa der Erhalt von Kulturgütern und die Stärkung strukturschwacher Regionen wesentlich vom Fremdenverkehr abhängig. Nun gäbe es Gelegenheit, neu zu bewerten, welche realen Probleme hinter dem Übertourismus steckten und welche primär emotional gesteuert seien.

Ansichten darüber, wie sich der Tourismus künftig entwickeln kann und wird, sind divergent: Einerseits werde sich nach Isolation und Reisebeschränkung vermehrt das Bedürfnis einstellen, andere Orte zu besuchen, sagen Experten und hoffen Reiseanbieter. Andererseits werden viele Menschen angesichts der wirtschaftlichen Lage das Geld für Reisen kaum aufbringen können.

Und die Widersprüche setzen sich fort: Zum einen könnten nach der Abstinenz von direkter Interaktion Reisebüros wieder an Wertschätzung gewinnen, zum anderen würde derzeit – zwangsläufig – die digitale Kompetenz auch bei bisher nicht affinen Gruppen steigen und damit die Reiseplanung noch stärker ins Internet verschoben werden.

Touristen am Flughafen von Antalya
Reuters/Anatolian Anatolian
Touristen auf dem Flughafen von Antalya – so wird es auch dort wohl länger nicht aussehen

Verlierer und potentielle Gewinner

Auch bei den Reiseanbietern würden Licht und Schatten sehr nahe liegen, sagte Brucker: Eine Marktbereinigung sei unausweichlich, diese werde vermutlich den bestehen bleibenden Unternehmen zugutekommen. Betriebe, die sich während der Krise umorientieren, mehr auf gesundheitliche und nachhaltige Aspekte Wert legen würden, könnten aus der Krise als Gewinner hervorgehen.

Der Massentourismus aber werde nicht aussterben, auch Langstreckenreisen und Kreuzfahrten würden sich wieder erholen – einen Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus bzw. wirksame Medikamente dagegen vorausgesetzt. Inzwischen, hofft Brucker, könnte „ein neues Bewusstsein bezüglich der natürlichen und kulturellen Ressourcen“ erwachsen und der soziale Faktor des Reisens wieder in den Fokus rücken – bei Angebot wie auch bei Nachfrage.

Virtual Reality als schwacher Ersatz

„Virtual Reality Travel“ (VR), also das rein virtuelle Erleben ferner Destinationen, könnte sich „als ergänzendes Tool zur klassischen Reise“ entwickeln, sagte Brucker, gab aber zu bedenken: „VR bietet in Zeiten von ‚Social Distancing‘ und Bewegungseinschränkung die Möglichkeit, Reiseerlebnisse zu haben. (…). Aber der Tourismus lebt von menschlicher Interaktion; es ist das Erleben mit allen Sinnen, die eine Reise zum richtigen Erlebnis machen. Diese Eigenschaften werden die Menschen auch in Zukunft zum Reisen bringen."