Krankenhaus Hotel-Dieu im 4. Pariser Arrondissement um die Jahrhundertwende
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Der „Coronavirus-Staat“

Hygiene, Moral und die Staatsmacht

Dass sich auch Hygienemaßnahmen des Staates wie ein Ausnahmezustand anfühlen, ist neu für unsere Gesellschaft. Die Wurzeln dieser Form von Biopolitik liegen bereits im 18. Jahrhundert, als die Verbindung zwischen der Gesundheit der Bevölkerung und dem Funktionieren von Ökonomie erkannt wurden. Waren Monarchen früher Instanzen, die über den Tod der Untertanen entscheiden konnten, soll der Staat gerade seit 1945 mit allen Mitteln das Leben der Einzelnen garantieren können. Mit klaren Folgen, wie man in der Gegenwart sieht.

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, hielt der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt in den 1920er Jahren in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ fest. Dass sich der Souverän nun ausgerechnet mit Hygienemaßnahmen auf dem Terrain der Notstandspolitik bewegt, verwundert Epidemiologen und Historiker wenig. Für die Bevölkerung führt die drastische Einschränkung von Bewegungsfreiheiten fast schon zu einem Gefühl des Grundrechtsverlusts. Ist Spazierengehen ein demonstratives Aufbegehren gegen die Staatsgewalt? Oder doch nur ein Akt einer persönlichen Gesundheitsmaßnahme; grundiert von der Frage: „Haben wir nicht gerade auch ein Grundrecht auf Gesundheit?“

Es ist ja der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und jedes Einzelnen, der momentan weitgehende Eingriffe und Ermächtigungen des Staates rechtfertigt, wie es in Österreich etwa das Epidemiegesetz vorsieht. Dass dies so ist, kann man in einigen historischen Entwicklungen verorten. Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault hat dafür zwei historische Umbrüche namhaft gemacht: Zum Ersten die Verzahnung von Ökonomie und Biologie in den Staatsrechtstheorien ab dem mittleren 18. Jahrhundert. Und zum Zweiten den britischen „Beveridge-Plan“ aus dem Jahr 1942, der nicht nur die (strittige) Steuerfinanzierung des Gesundheitswesen anregte, sondern so etwas wie ein Recht auf Gesundheit des Einzelnen vorsah.

„Im Zentrum“: Wie lange können wir uns den Ausnahmezustand leisten?

Seit zwei Wochen gelten in ganz Österreich strenge Ausgangsbeschränkungen. Was aus gesundheitspolitischer Sicht zur Bekämpfung des Coronavirus notwendig erscheint, hat dramatische Folgen auf das gesamte Wirtschaftsleben in Österreich: Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Werksstilllegungen, Insolvenzen. Das Herunterfahren der Republik in die Rezession stellt die Krise von 2008 bei Weitem in den Schatten. „Durchhalten“ ist die Parole der Bundesregierung, doch wie lange können Arbeiter, Angestellte und Unternehmer diese Situation ertragen? Darüber diskutieren bei Claudia Reiterer Margarete Schramböck (Wirtschaftsministerin, ÖVP), Peter Hacker (Gesundheitsstadtrat Wien, SPÖ), Jürgen Huber (Professor für Finanzwirtschaft, Universität Innsbruck) und Barbara Friesenecker (Vorsitzende ARGE Ethik, Intensivmedizinerin).

Die Gesundheit und das Vermögen des Staates

„Der Endzweck der Policey“, schrieb etwa der deutsche Ökonom und Kammeralist Johann Gottlob von Justi im Jahr 1759, sei die „allgemeine Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staates.“ Unter den Begriff der „Policey“ fallen damals alle Eingriffsmaßnahmen zum Erhalt der öffentlichen Ordnung zusammen. Der Staat, er hat nach Justi die Aufgabe, „die verschiedenen Güther zur Glückseeligkeit aller brauchbar zu machen“.

Das Innere des Hotel Dieu, quasi allgemeines Krankenhaus in Paris, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
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Das Pariser Hotel-Dieu im vierten Arrondissement in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor dem 18. Jahrhundert ging man in Spitäler, um darin zu sterben.

Laut Foucault habe man im 18. Jahrhundert begriffen, dass es nicht mehr nur um das „Volk“, sondern um die „Bevölkerung“ gehe. Diese sei zentraler Reichtum und Ressource eines Staates, und die Regierenden hätten entdeckt, „dass sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem ‚Volk‘, sondern mit einer ‚Bevölkerung‘ mit speziellen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand“ u. v. m.

„Die Staaten bevölkern sich nicht gemäß dem natürlichen Gang der Fortpflanzung, sondern aufgrund ihrer Industrie, ihrer Produktionen und verschiedenen Institutionen“, zitiert Foucault den französischen Ökonomen Claude-Jacques Herbert, der in seiner „Police generale des grains“ (1753) die enge Koppelung von Biologie und Ökonomie auf den Punkt brachte: „Die Menschen vermehren sich wie die Erträge des Bodens oder die Gewinne und Einkommen, die sie in ihrer Arbeit finden.“ Durch das gesamte 19. Jahrhundert habe sich dieser Ansatz gehalten, so Foucault, dass der Staat Erhalt und Pflege des Körpers an den Einzelnen als „moralische Aufgabe“ delegiere. Erst mit der Nachkriegsordnung nach 1945 sei dieser Zusammenhang laut Foucault auf ganz neue Beine gestellt worden.

Texte zum Thema

  • Giorgio Agamben: Homo Sacer.
  • Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1.
  • Michel Foucault: Die Krise der Medizin oder die Krise der Antimedizin: In: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3.
  • Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen.

Streit über die Rolle der modernen Medizin

Im Oktober 1974 hielt Foucault am Institut für Sozialmedizin in Rio de Janeiro einen Vortrag, der sich mit dem Funktionieren des medizinischen Systems in den Industriestaaten auseinandersetzte. Schon damals war von einer Krise des medizinischen Systems die Rede, schwelte eine Debatte darüber, ob die moderne, technisierte Medizin nicht ein Interesse an kranken, mehr denn an gesunden Menschen habe. Speerspitze der Debatte war der aus Wien gebürtige Philosoph und Priester Ivan Illich, der zu einem der Mentoren der Alternativbewegungen der 1970er Jahre werden sollte, nachdem er im Vatikan die Lateinamerikapolitik der römischen Kurie kennengelernt hat. Illich, so könnte man verkürzt sagen, ist der Autor des Buches „Bittere Pillen“ der 1970er Jahre mit seinem Werk „Medical Nemesis: Die Enteignung der Gesundheit“.

Gegen den Rundumschlag Illichs bemühte Foucault seine eigene Forschung seit den 1960er Jahren, etwa in Werken wie „Die Geburt der Klinik“ dargelegt, und kam auf sein Lieblingsthema der 1970er Jahre: die „Biopolitik“ des Staates (ein Thema, das durch die spät herausgegebenen Schriften zu einem Modethema in den Humanities ab den 2000er Jahren wird).

Michel Foucault, aufgenommen in seiner Bibliothek im Jahr 1977
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Foucault in seiner Bibliothek 1977. Seine Überlegungen zur Biopolitik hatten erst lange nach seinem Tod 1984 Konjunktur. Bekannt wurde Foucault eigentlich durch seine Forschungen über die „Geburt der Klinik“.

Foucault erinnert in seinen Ausführungen an den britischen „Beveridge-Plan“ aus dem Jahr 1942, der ausgerechnet zum Höhepunkt eines Krieges, der Dutzende Millionen Menschen das Leben kosten sollte, das Recht auf Gesundheit stärkte.

Gesundheit der Bevölkerung, Gesundheit des Einzelnen

Der Beveridge-Plan zeige, so Foucault, dass der Staat die Verantwortung für die Gesundheit übernehme; „man könnte nun sagen, dass dies nicht Neues sei, da es schließlich seit dem 18. Jahrhundert eine Funktion des Staates ist, die physische, Gesundheit seiner Bürger zu gewährleisten“. Allerdings, so fügt er hinzu, habe die Erhaltung der Gesundheit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutet, dass ein Staat damit hauptsächlich den Erhalt der „physischen Kraft der Nation, ihrer Arbeitskraft, ihres Produktionsvermögens und ihrer militärischen Stärke bedeutete“.

Im Gefolge des Beveridge-Plans verwandle sich die Gesundheit in einen Gegenstand, „um den sich Staaten nicht um ihrer selbst, sondern um der Individuen willen kümmern“. Foucault interessiert hinter der Debatte weniger der Umstand, ob das Gesundheitssystem eines Landes steuerfinanziert sei (wie in Großbritannien durch die Einführung des National Health System 1948), sondern dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs „in jedem entwickelten Land“ die „Gesundheit zum Gegenstand eines politischen Kampfes wird“ und jeder Staat die Ausgaben für Gesundheit „gewährleisten und finanzieren muss“.

„Eine neue Moral des Körpers“

Das Recht etwa, die Arbeit unterbrechen zu dürfen, nehme unter diesen Prämissen erstmals Gestalt an und „wird wichtiger als die alte Pflicht zur Sauberkeit, die für die moralische Beziehungen der Individuen zu ihren Körpern kennzeichnend war“. Für die „westliche Welt“ sind für Foucault die Jahre 1940 bis 1950 eine, wie er schreibt, „Referenzperiode“, „die für die Entstehung dieses neuen Rechts, dieser neuen Moral, dieser neuen Politik und dieser neuen Ökonomie des Körpers maßgeblich ist“. Seit damals sei der „Körper des Individuums“ Hauptzielpunkt „für den staatlichen Eingriff und zu einem der großen Gegenstände geworden, für den der Staat Verantwortung übernehmen müsse“.

Ausschnitt aus dem Print-Spiegel mit einem Zitat zur Corona-Krise: Dürfen Virologen und Experten, was in der Gesellschaft passiert
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Im aktuellen „Spiegel“ sorgt man sich um die gegenwärtige Macht der Virologen

Bis Mitte des 18. Jahrhunderts sei das Spital ein Ort gewesen, den niemand verlassen habe – „damals ging man in diese Institution, um darin zu sterben“. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekomme die Medizin schrittweise genügend Macht, „um zu erreichen, dass bestimmte Kranke das Spital verlassen“ konnten. Johann Gottlieb Fichte, so erinnert Foucault, habe Preußen 1810 als „geschlossenen Handelsstaat“ bezeichnet; die heutige Gesellschaft könne man hingegen als einen „offenen Medizinstaat“ bezeichnen, in welchem die „Medizinisierung“ grenzenlos erscheine (insofern könne man auch gewisse „volkstümliche“ Widerstände gegen diese dauerhafte „Medizinisierung“ erklären).

Der Staat und die „Lebensmacht“

Für Foucault liegt die Macht des Staates im Ausüben der „Lebensmacht“: „Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.“ Der italienische Philosoph Giorgio Agamben differenzierte in der Folge diesen Ansatz zur Biopolitik stärker aus und blickte genau dort hin, wo Staaten über die Organisation von Lebensmacht erst recht wieder töteten.

Foucault sieht die Gesellschaft zu einer Normierungs- und „Normalisierungsgesellschaft“ unterwegs, wie er im „Willen zum Wissen“ schreibt. Weil es darum gehe, das Leben zu sichern und auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren, würden die Subjekte an einer Norm gemessen und an ihr ausgerichtet: „Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“ Der abendländische Mensch habe damit allmählich gelernt, „was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben, sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren und optimal verteilen kann“.

Der Virologe und der Ausnahmezustand

Unter diesem Paradigma, so könnte man folgern, richtet die Politik nicht nur ihre Handlungsmaximen aus. Sie vollzieht unter diesen Vorgaben zweierlei: Sie setzt genau jene Experten ins Feld, die dem Paradigma entsprechen, also Experten aus den Bereichen der Medizin, Naturwissenschaften und Mathematik. Und der Staat entscheidet auf der Grundlage dieser Erkenntnisse, wann Notstandsmaßnahmen zu ergreifen sind. Diese fallen umso härter aus, als der individuelle wie kollektive Körper betroffen sind und der Staat fürchten muss, einem Primat nicht mehr nachkommen zu können: Leben zu garantieren.

„Dürfen Virologen und Experten das Sagen haben?“, fragt dementsprechend beunruhigt der aktuelle „Spiegel“ in seinem Aufmacher und setzt fort: „Unwirklich kann es einem aber auch vorkommen, wenn eine gesunde Wirtschaft ruiniert wird, um die Idealvorstellungen von Virologen und anderen Medizinern ins Werk zu setzen.“ Mit Blick auf die historischen Entwicklungen und die darin angelegte Machtmuster (so man der Macht- und Diskurstheorie Foucaults folgen will) wird man zum Schluss kommen: Entwickelte Staaten werden vor dem beschriebenen Hintergrund, das Leben garantieren zu müssen, schwerlich anders entscheiden. Mit Agamben bleibt aber auch die Frage im Raum, ob sich westliche Demokratien in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Gründen nicht sehr mit Ausnahmezuständen arrangiert haben. Ob das die Substanz eines Staates aushöhlt oder gerade sein Bestehen garantiert, wird je nach ideologischem Standpunkt unterschiedlich beantwortet werden.