Der ungarische Premier Viktor Orban
AP/Zoltan Mathe
Notstandsgesetz beschlossen

Ungarns Parlament faktisch entmachtet

Das ungarische Parlament hat sich in der Coronavirus-Krise faktisch entmachtet. Das umstrittene Notstandsgesetz der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban wurde Montagnachmittag mit der Zweidrittelmehrheit der rechtspopulistischen Regierungspartei FIDESZ im Parlament beschlossen.

Für das Gesetz stimmten 138 der insgesamt 199 Abgeordneten, 53 votierten dagegen. Die Opposition und andere Kritiker aus dem In- und Ausland werfen Orban vor, mit dem Gesetz das Parlament faktisch auszuschalten – zumal laut Grundgesetz die Regierung selbst darüber entscheidet, wann eine Notlage aufzuheben ist.

Das Parlament kann de facto keinen Einfluss mehr nehmen. Für das neue Gesetz wurde auch die parlamentarische Kontrolle des Notstands an sich ausgehebelt: Eigentlich muss das Parlament alle 15 Tage bestätigen, dass weiterhin eine Gefahrenlage herrscht. Das ist nun nicht mehr erforderlich.

Der ungarische Premier Viktor Orban
AP/Zoltan Mathe
Orban (Bildmitte), im Parlament umgeben von Mitgliedern der FIDESZ

Eine „Gefahrensituation“ kann in Ungarn etwa bei Naturkatastrophen, industriellen Katastrophen und eben Pandemien ausgerufen werden. Der Notzustand ermöglicht der Regierung weitgehende Eingriffe – zahlreiche Bürgerrechte können ausgesetzt werden. Laut dem Entwurf sollen auch Wahlen und Volksabstimmungen nicht stattfinden. Zudem drohen mehrjährige Gefängnisstrafen für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ und für „Behinderung der Epidemiebekämpfungsmaßnahmen“.

Keine Frist festgeschrieben

Sorge bereitet Kritikern daran vor allem eines: Ein zeitliches Limit für diesen Machtausbau gibt es nicht. Die Verordnung sieht eine Verlängerung der „Gefahrenlage“ und damit ein Regieren per Dekret bis Jahresende vor, festgeschrieben ist ein konkreter Zeitpunkt aber nicht. Die Regierung muss den Notstand von sich aus beenden. Theoretisch könnte auch das Parlament das Aus des Notstandes einleiten, doch auch in diesem hat FIDESZ eine Zweidrittelmehrheit. Laut Regierung wird kein Ende des Notstands festgelegt, weil unklar sei, wann die Epidemie endet.

Die Kettenbrücke in Budapest
Reuters/Bernadett Szabo
Auch in Ungarn sind die Straßen leer

Kritikerinnen und Kritiker zweifeln angesichts des Demokratieabbaus seit Orbans Amtsantritt, dass mit dem Jahreswechsel wieder Normalität in der von Orban ausgerufenen „illiberalen Demokratie“ einkehrt. In den vergangenen zehn Jahren hat FIDESZ seine Macht in staatlichen Institutionen und der Wirtschaft zementiert, die Opposition und kritische Medien ausgehungert. Aufgrund der Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien gerät Ungarn immer wieder in Konflikt mit der EU.

„Blankoscheck für Beschränkung der Menschenrechte“

Nun hat vor allem das unabsehbare Ende dieses Notstands im In- und Ausland für harte Kritik an Orban und seiner Regierung gesorgt. Amnesty International Ungarn warnte davor, dass das Gesetz einen „unendlichen und unkontrollierten Notstand schafft und Viktor Orban und seiner Regierung einen Blankoscheck für die Beschränkung der Menschenrechte verleiht“.

Zweite Abstimmung

Ungarn hat am 11. März eine „Gefahrensituation“ aufgrund der Coronavirus-Pandemie deklariert. Diese lief jedoch am 26. März aus, da die Opposition einer dringlichen Behandlung der Gesetzesvorlage am 23. März nicht zustimmte.

Auch der Europarat und das UNO-Menschenrechtsbüro riefen Ungarns Regierung auf, ein Zeitlimit zu setzen. In Brüssel hieß es, man verfolge die Entwicklung in Ungarn sehr genau. Kritik kam ebenfalls von zahlreichen EU-Parlamentariern. Auch Österreichs Justizministerin Alma Zadic (Grüne) sagte gegenüber dem „Kurier“, sie verfolge die Entwicklung „mit Sorge“.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vermied es vorerst, die Maßnahmen zu kommentieren. Aus dem Bundeskanzleramt hieß es am Montagabend gegenüber der APA, derzeit sei man voll gefordert durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Kurz habe Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) aber gebeten, die Entwicklungen in Ungarn genau zu verfolgen.

Gefordert wurde von mehreren ungarischen NGOs, auch die Rechte des Verfassungsgerichtshofs zu erweitern und diesem ein schnelles Ende des Notstands zu ermöglichen. Unabhängige Journalisten und Journalistinnen warnten zudem davor, dass durch die „Gefahrenlage“ unabhängige Medien weiter unter Druck gesetzt würden. In der internationalen Presse wurde die Maßnahme heftig kritisiert: „Orban führt Ungarn Richtung Diktatur“, hieß es etwa in der deutschen „Welt“. Die polnische „Gazeta Wyborcza“ warnte davor, dass die Pandemie einen „Vorwand zur Demontage demokratischer Mechanismen“ liefere.

Orban verweist auf „Verteidigungsmaßnahmen“

Orban hat die Kritik am Gesetz scharf zurückgewiesen. „Wenn Sie uns in der jetzigen Krise schon nicht helfen können, halten Sie doch zumindest Abstand davon, uns in unseren Verteidigungsmaßnahmen zu behindern“, beschied er etwa dem Europarat. Die Regierung betonte, dass die Notstandsgesetze zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie und dem Schutz der Bevölkerung dienten. Das Parlament könne den Notstand jederzeit beenden. Der Opposition warf er vor, den Kampf gegen das Virus verhindern zu wollen.

Der wegen der Coronavirus-Krise verhängte Notstand umfasst in Ungarn unter anderem eine Ausgangssperre bis vorerst 11. April, eine Grenzschließung, die Schließung von Universitäten und Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und das Pausieren der Gerichte. Laut der John-Hopkins-Universität in den USA gab es in Ungarn am Montag 447 bestätigte Infektionen und 15 Todesfälle.

Amnesty-Direktor: „Sehr ernst“

Der Direktor von Amnesty International Ungarn, David Vig, hat das Notstandsgesetz in Ungarn als „sehr ernstes Thema“ bezeichnet. Zwar würden sich keine direkten Menschenrechtsverletzungen aus dem Ermächtigungsgesetz ergeben, aber das Regieren auf unbestimmte Zeit würde der Regierung weitreichende Möglichkeiten dazu bieten.

So ermögliche das Gesetz der rechtsnationalen Regierung das schnelle Verabschieden oder Abändern von jeglichen Gesetzen oder auch die Beschränkung früherer Gesetze, was wiederum Auswirkungen auf die Menschenrechte haben könnte. Zudem strich er hervor, dass das ungarische Parlament „keinerlei Kontrolle“ habe. Insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung, Medienfreiheit, die Arbeit von Gerichten und das Eigentumsrecht seien Bereiche, wo Menschenrechte gefährdet seien. „Es ist eine sehr lange Liste“, sagte Vig.

Grüne und NEOS stellen Ungarns Platz in der EU infrage

Die Grünen und NEOS stellen nach der Abstimmung Ungarns Platz in der Europäischen Union infrage. „Wenn Orban die ungarische Demokratie aushebelt, kann es für ihn keinen Platz in der EU geben“, erklärte der Europasprecher der Grünen, Michel Reimon, am Montag.

„Wenn Orbans Notmaßnahmen nicht zeitlich begrenzt werden, werden wir nicht wegschauen“, so Reimon weiter. „Dann diskutieren wir im Herbst über Sanktionen bis hin zur Mitgliedschaft in der EU. Autokratien und schon Ansätze von Diktaturen sind inakzeptabel.“

„Ungarn mit heutigem Tag eine Diktatur“

„Die Frage, ob Ungarn einen Platz in der Union hat, muss sich nicht mehr nur die Europäische Volkspartei, sondern jeder Staats- und Regierungschef und jede europäische Institution stellen“, sagte NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon zur Ausschaltung des ungarischen Parlaments. „Ungarn ist mit dem heutigen Tag eine Diktatur.“

Die ungarische Regierung nütze die Coronavirus-Krise auf „besonders widerwärtige und gefährliche Weise aus und hat mit dem Ermächtigungsgesetz die Demokratie in Ungarn de facto abgeschafft“, so Gamon. Das Vorgehen in Ungarn stehe im Widerspruch zu allem, wofür Europa stehe. „Ich erwarte eine klare und sofortige Antwort der europäischen Spitzen.“