Stau an Grenze zwischen Slovenien und Kroatien
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CoV am Westbalkan

Verzweifelte Appelle an Diaspora

Die Staaten des ehemaligen Jugoslawien haben drastische Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ergriffen. In mehreren Ländern wurden Ausgangssperren verhängt, den gebeutelten Gesundheitssystemen droht der Kollaps. Eine große Bedrohung sehen Serbien, Bosnien-Herzegowina und Co. aber ausgerechnet in ihren Landsleuten im Ausland – an sie werden verzweifelte Appelle gerichtet. Tenor: „Bleiben Sie dort, wo Sie sind!“

Doch setzte noch im Vorfeld der Grenzschließungen quer durch Europa eine massive Rückreisewelle ein – Grund: Baustellen, Skigebiete und große Werke in Ländern wie Österreich und Deutschland schlossen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Saisonniers, aber auch Touristen und Geschäftsleute entschieden sich angesichts der sich zuspitzenden Lage zu einer raschen Rückkehr in ihre Herkunftsländer – allen voran in die EU-Staaten Slowenien und Kroatien.

Viele dieser Rückkehrer arbeiten das ganze Jahr über im Ausland, haben aber Verwandte in der Heimat – viele in hohem Alter. Eine besondere epidemiologische Herausforderung, der alle Staaten des Westbalkans gegenüberstehen. Allen Rückkehrern wurde häusliche Selbstisolation verordnet – verbunden mit scharfen Drohungen, denn bei Verstößen dagegen drohen hohe Geldstrafen – bis hin zu Freiheitsstrafen.

„Bleiben Sie in dem Land, in dem Sie sich aufhalten“

Doch mehr Rückkehrer sollen nicht mehr einreisen: Sloweniens Außenminister schickte einen Appell an Landsleute im Ausland, über die Osterfeiertage in europäischen Ländern mit guten Gesundheitssystemen zu bleiben und nicht nach Slowenien zurückzukommen. Zwar liegt die Zahl der bestätigten Fälle im Land noch unter 1.000, doch nähert sich das Gesundheitssystem des Zwei-Millionen-Einwohner-Staates bereits der Auslastungsgrenze.

Krankenpersonal in Montenegro
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Soldaten der serbischen Armee bei einer Patrouille in der Innenstadt von Belgrad

Auch andere Staaten baten ihre Staatsangehörigen im Ausland, nicht nach Hause zu fahren. „Bleiben Sie in den Staaten, in denen Sie sich gerade aufhalten“, empfahl etwa das bosnische Außenministerium. Hierbei gibt es einen entscheidenden Unterschied zu Slowenien und Kroatien, schließlich ist das Land nicht Teil der EU, mit der Arbeit verlieren Staatsangehörige ihr Aufenthaltsrecht in der EU.

Vucic: „Unser Ende“

Im Fokus steht hierbei insbesondere Serbien: Es ist jener Balkan-Staat mit den meisten Angehörigen im Ausland. Dass Serben ohne Arbeit nicht einfach im Ausland bleiben können, ist Präsident Aleksandar Vucic bewusst – dennoch flehte er die Diaspora an, fernzubleiben: „Das wäre unser Ende“, so Vucic in einer seiner TV-Ansprachen. Doch reisten viele nach Serbien ein, Vucic sprach von 45.000 Personen in zwei Tagen. Diesen Personen die Einreise erlaubt zu haben, nannte Vucic später seinen „einzigen kapitalen Fehler“.

Aleksandar Vucic begrüßt chinesische Ärzte
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Vucic spielte die Gefahr zunächst herunter – nach seinem Sinneswandel freute er sich über großzügige Lieferungen aus China

Grenzen für Staatsbürger geschlossen

Serbien machte mittlerweile seine Grenzen auch für Staatsbürger dicht – als einziger Staat. Doch hatte Vucic einen bemerkenswerten Sinneswandel hingelegt, denn Ernst nahm er das Virus anfangs nicht. Noch vor wenigen Wochen empfahl der Ministerpräsident den Serbinnen und Serben noch Schnaps als Heilmittel gegen das Virus, heimische Experten sahen im Coronavirus „das lächerlichste Virus der Menschheitsgeschichte“. Mittlerweile gibt Vucic täglich Pressekonferenzen, er trägt dabei Schutzkleidung, Maske und Handschuhe.

Isolation der über 65-Jährigen, Trennung von Alt und Jung

Der serbischen Gesellschaft (sowie auch jener in Bosnien-Herzegowina) wurden noch weit härtete Maßnahmen auferlegt – insbesondere den Älteren: In beiden Ländern gilt für alle Personen über 65 eine ganztägige Ausgangssperre. In der Republika Srpska darf die Generation 65 plus nur dienstags und freitags in der Zeit von 7.00 bis 10.00 Uhr früh aus der Isolation.

In der Föderation Bosnien und Herzegowina gilt auch für die unter 18-Jährigen eine totale Ausgangssperre. Nordmazedonien setzt auf die Trennung der sensiblen Gruppen und verordnete unterschiedliche Ausgangszeiten für die ältere und jüngere Generation: Menschen, die älter als 65 Jahre sind, dürfen nur in der Zeit von 5.00 Uhr früh bis 11.00 Uhr vormittags ihre Häuser verlassen – die unter 18-Jährigen dürfen erst ab Mittag bis 21.00 Uhr hinaus.

Ausgangssperren werden laufend ausgeweitet

In Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Nordmazedonien wurden nächtliche Ausgangssperren verhängt. In Serbien beginnt die „Polizeistunde“ – so die offizielle Bezeichnung – schon um 17.00 Uhr und endet um 5.00 Uhr. Am Wochenende beginnt die Ausgangssperre in Montenegro und Serbien bereits um 13.00 Uhr. Im Kosovo gilt zusätzlich zur nächtlichen Ausgangssperre eine allgemeine Ausganssperre in der Zeit von 10.00 bis 16.00 Uhr. Das bringt Stoßzeiten und führt zu langen Warteschlangen in Lebensmittelgeschäften und Banken.

Militärlager für Kranke in Serbien
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In einer Messehalle in Belgrad wurden bereits Vorbereitungen für die massenhafte Unterbringung von CoV-Erkrankten getroffen

Die Androhung hoher Strafen bzw. Freiheitsstrafen sollen zur Abschreckung der immer größer werdenden Zahl von Personen dienen, die unter häuslicher Quarantäne stehen. Täglich werden Appelle und Drohungen in den regionalen Medien ausgesprochen – auch an jede, die bei der Einreise nicht registriert worden sind. Für eine flächendeckende Kontrolle dieser Personen fehlen die Ressourcen.

Öffentliche Hetzjagd befürchtet

Polizei und Militär sind vielerorts bereits mit der Kontrolle der Ausgangsperren überlastet. Die immer länger werdende Liste heimgekehrter Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wird etwa in Montenegro und Bosnien-Herzegowina sogar öffentlich gemacht. Kritikern, die eine öffentliche Hetzjagd befürchteten und Persönlichkeitsrechte verletzt sehen, entgegneten die Regierungen, dass die Volksgesundheit und das Allgemeinwohl in diesem Fall über den Rechten des Einzelnen stünden.

Grafik zeigt die Maßnahmen und Fallzahlen auf dem Westbalkan
Grafik: ORF.at; Quelle: Gesundheitsministerien

Zwangsisolation in Quarantänelagern

Generell wird versucht, aus dem abschreckenden Beispiel Italien zu lernen und landesweite Ausbreitungen des Coronavirus zu vermeiden. Nicht nur in Serbien, sondern auch in den meisten anderen Westbalkan-Staaten wurden Quarantänestationen errichtet: Öffentliche Gebäude und Studierendenheime wurden umfunktioniert, sogar provisorische Zeltquarantänelager wurden an Grenzen aufgebaut. Dort werden alle Heimkehrer aus Risikogebieten untergebracht.

Und die Vorgaben sind hart – schließlich gilt Selbstisolation in der eigenen Wohnung als zu riskant. Die meisten Menschen auf dem Balkan leben im Familienverband mehrerer Generationen zusammen, Single-Haushalte sind die Ausnahme. Deshalb gelten besondere Regeln: So müssen sich auch Personen, die negativ getestet wurden, in ihrem Heimatort für 14 Tage in häusliche Quarantäne begeben. Positiv Getestete werden in eine staatliche Quarantänestation überstellt und müssen dort bis zu ihrer Genesung bleiben.

Arbeiter in Schutzkleidung in Kranj, Slowenien
APA/AFP/Jure Makovec
Arbeiter bei der Desinfektion vor dem Rathaus im slowenischen Kranj

Bei Nichtbeachtung der häuslichen Quarantänevorschrift droht ebenfalls die Zwangsisolation in einem staatlichen Quarantänezentrum. Flüchtlinge, die vielen Regierenden in der Region schon länger ein Dorn im Auge sind, werden zwangsisoliert. Aus Serbien und Bosnien-Herzegowina mehren sich Hilferufe verzweifelter Bürgerinnen und Bürger, die über mangelnde Hygiene in den Quarantänelagern und tagelanges Warten auf Testergebnisse auf engstem Raum klagen – die Ansteckungsgefahr ist freilich immens hoch.

Pressefreiheit und Demokratie bedroht

Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro und Kosovo verhängten den Ausnahmezustand. In einigen Staaten stieß das auf Widerstand. Der Vorwurf der Demontierung der Demokratie und Medienlandschaft wurde erhoben. Das kommt nicht von ungefähr, schließlich stand es mit der Pressefreiheit im Südosten Europas schon vor der Krise nicht zum Besten.

Krankenpersonal in Montenegro
APA/AFP/Savo Prelevic
Spitalsangestellte vor einem Triagezelt in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica

Zuletzt sind die meisten Balkan-Staaten im Ranking von Reporter ohne Grenzen um mehrere Plätze zurückgefallen – allen voran Serbien und Montenegro. Aber auch in Kroatien stehen viele der verschärften Vorgehensweise gegen „Fake News“ kritisch gegenüber. Auch für die Verbreitung von Falschnachrichten drohen in der Region drakonische Geldtrafen – auch mehrjährige Freiheitsstrafen werden angedroht.

Fragile politische Systeme

In mehreren Westbalkan-Ländern kommt das Einfrieren des öffentlichen Lebens zu einer politisch sensiblen Zeit. In Slowenien ist es der scheidende Premier, der zur Einigkeit mahnt und inmitten der Krise an die neue Regierung übergibt, die ihren Dienst online antreten muss. In Montenegro kommt ein Versammlungsverbot zu einem heiklen Zeitpunkt: Bis vor Kurzem wurde hier noch zweimal wöchentlich gegen ein neues Gesetz zur Religionsfreiheit protestiert. Tausende Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten die Kundgebungen der serbisch-orthodoxen Kirche.

In Bosnien und Herzegowina ist der Epidemieplan ein weiterer Balanceakt entlang ethnischer Grenzen. Noch scheint das Virus die Regionen zusammenrücken zu lassen: Sogar Milorad Dodik, Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums einer der lautesten Vertreter eines getrennten Bosniens, ruft zur Einigkeit im Kampf gegen das Virus auf. Im Kosovo hingegen zerbrach die Regierung an der CoV-Krise. Die Verabschiedung von Maßnahmen wurde lange durch Ex-Premier Albin Kurti blockiert. Schließlich wurde Kurti per Misstrauensantrag abgewählt und der Ausnahmezustand wurde ausgerufen.

Fehlende Tests

Bemerkenswert ist auch, dass die Zahl der Neuerkrankungen in manchen Teilen der Region merklich langsamer ansteigt als in anderen – Grund dafür sind fehlende Testkapazitäten und Fachpersonal. So liegt die Zahl der bestätigten Fälle in Nordmazedonien nur bei knapp einem Drittel der Zahl Kroatiens. Die erste Erkrankung wurde in Nordmazedonien bereits an 26. Februar gemeldet – nur einen Tag nach Kroatien.

Straßentest in Zagreb
APA/AFP/Denis Lovrovic
Eine Station für Schnelltests in Zagreb

Bosnien und Herzegowina befinden sich, wie Slowenien und Serbien auch, in der vierten Woche der Pandemie. Die Zahl der Neuerkrankungen stieg in Bosnien aber um die Hälfte weniger an als in Slowenien und Serbien. Jedoch stieg die Zahl der Fälle in Serbien drastisch an: Grund dafür war die Lieferung von Testkits und das Eintreffen von Fachkräften aus China in Belgrad.

In allen Balkan-Staaten wächst die Zahl der Neuinfektionen wiederum deutlich langsamer als im Westen Europas: Kroatien und Österreich haben den Kampf gegen das Virus gleichzeitig begonnen und ähnliche Maßnahmen ergriffen. Doch stieg die Zahl der bestätigten Fälle in Österreich seither um ein Vielfaches im Vergleich zu Kroatien.

Virus und Erdbeben zugleich

Kroatien kämpft unterdessen mit zusätzlichen Problemen, weil ein Erdbeben am 22. März in Zagreb große Schäden anrichtete – besonders dramatisch, schließlich gilt die kroatische Hauptstadt als Coronavirus-Hotspot des Landes. Viele Bürgerinnen und Bürger flüchteten infolge der CoV-Krise aus Zagreb und den Städten in andere Regionen des Landes. Seit dem 24. März dürfen die Kroatinnen und Kroaten ihre jeweiligen Heimatgemeinden nicht mehr verlassen.